Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hat am Sonntag in Berlin ein weitreichendes Angebot gemacht – und zugleich eine klare Grenze gezogen. Kiew sei bereit, den eigenen Beitrittsantrag zur NATO fallen zu lassen, wenn der Westen im Gegenzug verbindliche Sicherheitsgarantien gewähre. Was für Selenskyj ein schmerzhafter Schritt ist, bezeichnet er selbst als Kompromiss. Eine Abtretung ukrainischen Territoriums an Russland schließt er jedoch kategorisch aus. Die Erklärung fiel am Rande mehrstündiger Gespräche mit hochrangigen Vertretern der US-Regierung. Selenskyj traf sich mit Steve Witkoff, dem Sondergesandten von US-Präsident Donald Trump, sowie mit Trumps Schwiegersohn Jared Kushner. Am Verhandlungstisch saß auch Bundeskanzler Friedrich Merz, der die Gespräche von deutscher Seite begleitete. Fotos des Treffens veröffentlichte Selenskyj später selbst.

Vor Journalisten, denen er vorab per Sprachnachrichten in einem WhatsApp-Chat antwortete, machte der ukrainische Präsident deutlich, warum er den Schritt für notwendig hält. Da die USA und mehrere europäische Staaten den NATO-Beitritt der Ukraine faktisch blockiert hätten, erwarte Kiew nun Sicherheitszusagen, die jenen der NATO-Mitglieder gleichkämen. Diese Garantien seien nötig, um eine weitere russische Aggression zu verhindern. Dass die Ukraine überhaupt bereit sei, auf ihr jahrzehntelanges Ziel der Bündnismitgliedschaft zu verzichten, sei bereits ein Entgegenkommen.
Russlands Präsident Wladimir Putin hatte den NATO-Kurs der Ukraine immer wieder als Bedrohung für Moskaus Sicherheit dargestellt und ihn als einen der Gründe für den Großangriff im Februar 2022 genannt. Der Kreml verlangt bis heute, dass Kiew seine Beitrittsambitionen formell aufgibt – als Voraussetzung für jede Friedensregelung. Selenskyj machte zugleich klar, dass bloße politische Zusicherungen für ihn nicht ausreichen. Sicherheitsgarantien müssten rechtlich bindend sein und vom US-Kongress mitgetragen werden. Er erwarte zudem Ergebnisse eines Treffens ukrainischer und amerikanischer Militärvertreter in Stuttgart, wo derzeit über konkrete Sicherheitsrahmen gesprochen werde.

Nach dem rund fünfstündigen Treffen in Berlin meldete sich die US-Seite öffentlich zu Wort. Über den offiziellen Social-Media-Account von Witkoff hieß es, man habe „große Fortschritte“ erzielt. Washington versucht seit Monaten, zwischen den Positionen Moskaus und Kiews zu vermitteln. Trump drängt auf ein rasches Ende des Krieges und zeigt sich zunehmend ungeduldig über den schleppenden Verlauf der Gespräche. Doch die Suche nach Kompromissen stößt immer wieder an harte Grenzen – vor allem beim Thema Territorium. Im Mittelpunkt steht dabei die ostukrainische Region Donezk, die größtenteils von russischen Truppen besetzt ist. Putin verlangt, dass die Ukraine auch jene Teile räumt, die noch unter ihrer Kontrolle stehen. Für Kiew ist das nicht verhandelbar.
Selenskyj berichtete, die US-Seite habe vorgeschlagen, dass sich ukrainische Truppen aus Teilen der Region zurückziehen und dort eine entmilitarisierte Freihandelszone eingerichtet werde. Er wies diesen Vorschlag als realitätsfern zurück. Die Frage, wer eine solche Zone verwalten solle, sei unbeantwortet. Wenn ukrainische Truppen fünf oder zehn Kilometer zurückgingen, fragte Selenskyj, warum russische Einheiten dann nicht ebenso weit aus den besetzten Gebieten abrücken sollten. Das Thema sei extrem sensibel, sagte der Präsident. Aus seiner Sicht sei ein Einfrieren entlang der aktuellen Kontaktlinie der einzig vertretbare Ansatz. Die Ukraine solle dort bleiben, wo sie stehe – nicht einen Schritt weiter zurück.
Aus Moskau kamen prompt warnende Töne. Putins außenpolitischer Berater Juri Uschakow erklärte gegenüber der Wirtschaftszeitung Kommersant, selbst im Fall einer entmilitarisierten Zone würden russische Polizei und Nationalgarde in Teilen der Region Donezk bleiben. Er warnte zudem, die Suche nach einem Kompromiss könne sich lange hinziehen. Vorschläge, die ursprünglich auch russische Forderungen berücksichtigt hätten, seien durch Änderungen aus Kiew und von europäischen Partnern aus Moskauer Sicht verschlechtert worden.
In einem Interview im russischen Staatsfernsehen sagte Uschakow, der Beitrag der Ukrainer und Europäer zu den bisherigen Entwürfen sei kaum konstruktiv. Moskau werde sehr starke Einwände erheben. Die territorialen Fragen seien bereits intensiv diskutiert worden, als Witkoff und Kushner Anfang des Monats in Moskau mit Putin zusammentrafen. Die Amerikaner kennten die russische Position genau. Parallel zu den Gesprächen suchte Selenskyj Rückendeckung bei Europas wichtigsten Verbündeten. Kurz vor dem Treffen mit den US-Gesandten telefonierte er mit dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron. Auf X dankte er ihm für seine Unterstützung und betonte, man arbeite eng zusammen für die gemeinsame Sicherheit. Macron wiederum versicherte öffentlich, Frankreich werde an der Seite der Ukraine bleiben, um einen dauerhaften Frieden zu schaffen, der die Sicherheit und Souveränität der Ukraine und Europas garantiere.
Bundeskanzler Merz, der gemeinsam mit Macron und dem britischen Premierminister Keir Starmer die europäische Unterstützung für Kiew vorantreibt, hatte bereits am Samstag deutliche Worte gefunden. Die Zeit des sogenannten amerikanischen Schutzes sei für Europa weitgehend vorbei, sagte er. Putin strebe eine grundlegende Veränderung der Grenzen in Europa an und wolle alte Machtverhältnisse wiederherstellen. Wenn die Ukraine falle, werde er nicht stoppen. Der Kreml weist solche Vorwürfe zurück. Putin bestreitet, die Sowjetunion wiederherstellen oder NATO-Staaten angreifen zu wollen.
Während in Berlin verhandelt wurde, setzte sich der Krieg mit unverminderter Härte fort. Die ukrainische Luftwaffe meldete, Russland habe in der Nacht ballistische Raketen und 138 Drohnen eingesetzt. 110 davon seien abgefangen worden, dennoch habe es an sechs Orten Einschläge gegeben. Hunderttausende Familien seien im Süden, Osten und Nordosten des Landes weiterhin ohne Strom, sagte Selenskyj. In der vergangenen Woche habe Russland mehr als 1.500 Angriffsdrohnen, fast 900 gelenkte Bomben und 46 Raketen unterschiedlicher Typen eingesetzt. Auch Russland berichtete von Angriffen. Nach Angaben des Verteidigungsministeriums wurden binnen weniger Stunden 235 ukrainische Drohnen abgeschossen. In der Region Belgorod wurde ein Mann verletzt, als eine Drohne sein Haus in Brand setzte. In der Region Wolgograd trafen ukrainische Drohnen ein Öllager nahe Uryupinsk und lösten ein Feuer aus. In der südrussischen Region Krasnodar wurden bei Angriffen auf die Stadt Afipski Fensterscheiben in Wohnhäusern zerstört; Schäden an der dortigen Raffinerie meldeten die Behörden nicht.
Zwischen diplomatischen Angeboten, harten Bedingungen und täglicher Gewalt zeigt sich damit erneut, wie schmal der Grat ist, auf dem sich die Friedensgespräche bewegen. Selenskyjs Signal ist klar: Die Ukraine ist zu schmerzhaften Zugeständnissen bereit – aber nicht um den Preis ihres Landes.
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Unglaublich, da wird einmal sogar zugegeben, dass ukrainische Drohnenangriff auf russisches Territorium sich doch auch gegen Zivilisten richten könnten… Lästt hoffen, dass der Anteil ALLER am Krieg endlich zur Kenntnis genommen wird, weil sonst ein echter Frieden schwer möglich ist.