Zwischen zwei Songs taucht plötzlich eine Stimme auf. Sie klingt sachlich, fast freundlich, doch der Inhalt sitzt: „In zu vielen Städten laufen gefährliche Illegale frei herum. Treten Sie ICE bei – mit Prämien bis zu 50.000 Dollar und großzügigen Sozialleistungen.“ Danach spielt Spotify weiter Musik, als wäre nichts gewesen. Unsere Recherchen zeigen, dass Spotify 2025 tatsächlich Rekrutierungsanzeigen der US-Behörde Immigration and Customs Enforcement (ICE) geschaltet hat – und dass der Streamingdienst damit Teil einer größeren Werbekampagne der US-Regierung ist. Spotify bestätigte den Vorgang, verwies auf die Richtlinienkonformität der Inhalte und betonte, die Werbung sei Teil einer „breit angelegten staatlichen Kampagne“ über mehrere Plattformen.
Tatsächlich steht Spotify nicht allein. Nach weiteren Recherchen sollen auch Meta, YouTube, Pandora, HBO Max und Hulu laut Nutzern ICE-Rekrutierungsanzeigen ausgespielt haben. Was zunächst wie ein Internetgerücht wirkte, ist inzwischen belegt. Und es hat Konsequenzen – vor allem für das Selbstverständnis einer Plattform, die sich gern als progressiv und kulturell offen präsentiert.
In der Musikszene reagierte man jetzt prompt. Das Punklabel Epitaph Records forderte öffentlich den sofortigen Stopp der ICE-Anzeigen. Künstler und Fans, hieß es, verdienten Plattformen, die „die Werte der Kultur widerspiegeln, die sie am Leben erhalten“. Andere Labels und Musiker schlossen sich an, auf sozialen Netzwerken kursierten Boykottaufrufe und Mitschnitte aus der App, die den Spot belegen.
Auf Nachfrage reagiert Spotify gelassen. Die Anzeigen, so ein Sprecher, verstießen nicht gegen Unternehmensrichtlinien. Nutzer könnten Werbung mit einem „Daumen runter“ markieren, um künftige Präferenzen anzupassen. Dass die Werbung von einer Sicherheitsbehörde stammt, die für Abschiebungen, Lager und nächtliche Razzien steht, spielt im System offenbar keine Rolle, da die Werbeeinahmen lukrativ sind, scheinbar egal, das so mancher Spotify-Hörer unschuldig abgeschoben wird. Die Kampagne selbst, das ergaben weitere Recherchen, wurde über das Werbenetzwerk The Trade Desk ausgeliefert – eine Plattform, die Anzeigen für hunderte Apps und Streamingdienste verteilt. Welche Spots konkret erscheinen, entscheidet kein Redakteur, sondern ein Algorithmus. Werbung wird dort wie Wasser verteilt: nach Budget, Reichweite und Zielgruppe, nicht nach Inhalt.
Das Heimatschutzministerium, dem ICE untersteht, wertet die Aktion als Erfolg. Tricia McLaughlin, stellvertretende DHS-Sekretärin, sprach von über 150.000 Bewerbungen „patriotischer Amerikaner, die dem Ruf folgen, das Heimatland zu verteidigen“. In Googles Ads Transparency Center und in der Meta Ad Library tauchen nahezu identische ICE-Anzeigen auf – erstmals Ende August, zuletzt am 20. Oktober. Dass staatliche Propaganda in der Streamingwerbung kaum auffällt, liegt am Medium selbst. Zwischen Musik, Podcasts und Produktspots verschwimmen Grenzen. Eine Rekrutierungsanzeige wirkt wie ein weiterer algorithmisch eingestreuter Werbeblock – dieselbe Stimme, dieselbe Tonlage, dieselbe technische Neutralität.
Spotify hat den Vorgang bestätigt, aber keinen Grund gesehen, etwas zu ändern. Für das Unternehmen ist die Anzeige legal und konform. Für die Regierung ein Erfolg. Für die Öffentlichkeit bleibt ein Satz, der hängen bleibt: Zwischen zwei Songs wirbt eine Behörde für Menschen, die andere festnehmen sollen.
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