Minneapolis widersetzt sich – Wenn ICE auf immer mehr Widerstand trifft und eine Stadt ihre Nachbarn schützt

VonRainer Hofmann

Dezember 22, 2025

Wir hatten in den letzten Tagen häufig über ICE-Einsätze auch in Minneapolis berichtet. Die teils schockierenden Aufnahmen möchten wir hier nicht noch einmal alle wiederholen. Noch bevor man die Menschen sah, war der Lärm da. Pfeifen, Rufe, das dumpfe Geräusch von Schritten im Schnee. In einer Wohnstraße von Minneapolis standen mehr als siebzig Menschen dicht gedrängt auf dem Gehweg, Handys erhoben, Stimmen laut. Ihnen gegenüber: mehrere Fahrzeuge von ICE, wenige Beamte, sichtbar unter Druck. Was als gezielte Verkehrskontrolle begann, eskalierte innerhalb weniger Minuten zu einer offenen Konfrontation – festgehalten auf Bildern, die wir auch in den letzten Tagen bereits hier gezeigt hatten.

Ein ICE-Beamter drückte einen Demonstranten zu Boden. Eine Frau versuchte einzugreifen, der Beamte hob den Schlagstock. Die Stimmung kippte endgültig. Wut, Schreie, Pfiffe. Ein Vorgesetzter funkte die Polizei des Hennepin County an. In einer später veröffentlichten Tonaufnahme ist zu hören, wie er von „60 bis 70 Aufwieglern“ spricht, die seine Beamten angreifen würden. Kurz darauf trafen die Sheriffs ein, stellten sich an den Rand des Geschehens und beobachteten, wie ICE und Protestierende sich die Straße entlang bewegten. Ein Auto mit eingeschlagener Scheibe stand im Hintergrund. Dann feuerten ICE-Beamte mehrere sogenannte Pfefferkugeln in die Straße. Menschen wichen hustend zurück, suchten Wasser für ihre brennenden Augen.

Die örtlichen Behörden widersprachen später der Darstellung von ICE. Das Sheriff’s Office erklärte öffentlich, man habe keine Angriffe auf Beamte gesehen und auch keine Verletzten festgestellt. Zugleich betonte die Behörde, sie beteilige sich nicht an ziviler Einwanderungsdurchsetzung. Die Bilder jedoch erzählen von einem anderen Klima: eines, in dem Bundesbeamte mit Schlagstock und Reizstoff gegen Anwohner auftreten, während gewählte Vertreterinnen mitfilmen und selbst getroffen werden.

Auslöser der Eskalation ist die sogenannte „Operation Metro Surge“, die das Heimatschutzministerium Anfang Dezember gestartet hat. Minneapolis und Saint Paul stehen seither im Fokus verstärkter ICE-Aktivitäten. Viele Bürgerinnen und Bürger sagen offen, warum sie sich einmischen: aus Solidarität mit der somalischen Community und anderen migrantischen Gruppen, die sie als gezielt ins Visier genommen sehen – nicht zuletzt durch abwertende Aussagen des Präsidenten. In Minnesota lebt die größte somalische Gemeinschaft der USA, rund 80.000 Menschen. Die meisten von ihnen sind amerikanische Staatsbürger.

Die Sorge ist greifbar. Cafés und Geschäfte, sonst voller Leben, bleiben leer. Menschen verlassen ihre Wohnungen nicht mehr. Ein somalisch-amerikanischer Anwohner beschreibt, wie selbst Staatsbürger Angst haben, verwechselt und festgenommen zu werden. Er spricht von Tagen ohne Einkäufe, von schlaflosen Nächten. Die Festnahme eines 20-jährigen, in den USA geborenen Somaliers während seiner Mittagspause hat diese Angst weiter verschärft. Er sagte später, er habe den Beamten mehrfach erklärt, dass er US-Bürger sei und versucht, seinen Ausweis zu zeigen. Niemand habe hingesehen. Ein Muster, was wir kennen. Erst nachdem man einen Rechtsanwalt für ihn besorgen konnte, kam er frei. Die Stadtspitze entschuldigte sich. Die Polizei nannte den Vorfall beschämend.

Bürgerrechtsorganisationen sprechen von einem System. ICE erklärt, man gehe gegen schwere Kriminelle vor. Eine glatte Lüge. Gleichzeitig werden legale Migranten und Staatsbürger festgesetzt, teils mit Gewalt, teils ohne klare Begründung. Auch das haben wir vielfach dokumentiert. Politikerinnen vor Ort warnen vor Zuständen, die sie mit Geheimpolizei aus dem Dritten Reich vergleichen. Eine Abgeordnete, die bei dem Einsatz zweimal mit Reizstoff getroffen wurde, sagte offen: Man werde nicht schweigen, nicht zurückweichen. Die Nachbarn seien wichtig. Ihre Rechte seien nicht verhandelbar. Gleichzeitig gibt es auch Zustimmung für das harte Vorgehen. Mehrere republikanisch geführte Landkreise kooperieren mit ICE. Die Behörde selbst spricht von steigenden Angriffen auf ihre Beamten und fordert Politik, Medien und Aktivisten auf, „die Temperatur zu senken“. Doch genau hier liegt der Bruch. Für viele in Minneapolis ist es nicht die Kritik, die eskaliert, sondern die Präsenz bewaffneter Bundesbeamter in Wohnvierteln, das Ignorieren von Ausweisen, das Wegsehen bei offenkundigen Fehlern, ein Rechtsverstoß reiht sich an den nächsten.

Tausende waren in Minneapolis am 20. Dezember gegen ICE auf den Straßen

In dieser Stadt formiert sich Widerstand nicht aus Ideologie, sondern aus Alltag. Restaurantbesitzer, Lehrerinnen, Pflegekräfte, Nachbarn organisieren sich in schnellen Alarmgruppen, filmen Einsätze, pfeifen, dokumentieren. Seit den jüngsten Aussagen des Präsidenten haben sich Hunderte neu angemeldet. Sie lernen ihre Rechte, sie lernen, wie man beobachtet, ohne selbst zur Zielscheibe zu werden. Und sie lernen, dass Öffentlichkeit Wirkung zeigt. Aktivisten berichten, dass ICE-Einsätze abgebrochen werden, sobald zu viele Augen hinschauen.

Minneapolis steht damit exemplarisch für ein Land im Konflikt. Zwischen staatlicher Macht und bürgerlichem Widerstand. Zwischen Durchsetzung und Würde. Zwischen der Lüge von Sicherheit und der Realität von Angst. Wie das endet, weiß niemand. Aber eines ist sichtbar: Diese Stadt hat begonnen, sich zu wehren, für ihre Nachbarn, für die Gesellschaft. Und noch eines ist sicher: Weihnachten 2025 wird anders sein, ICE rüstet für die Feiertage auf und wir wissen selber, dass Weihnachten auch für uns eine arbeitsreiche Zeit werden wird. Aber Verstöße gegen Menschenrechte machen auch vor Weihnachten keinen halt und auch in dieser Zeit muss man für die Opfer von ICE da sein.

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