Im Visier – ein geheimes Überwachungsnetz auf den Straßen und warum Touristen ins Fadenkreuz geraten

VonRainer Hofmann

November 20, 2025

Die USA haben über zwei Jahrzehnte hinweg ein System geschaffen, das kaum jemand bewusst wahrnimmt, das aber tief in den Alltag eingreift: ein Netz aus Kameras, versteckten Geräten, Datenströmen und Entscheidungen, die weit entfernt von den Orten getroffen werden, an denen Menschen kontrolliert werden. Was einst als Instrument zur Bekämpfung grenznaher Kriminalität gedacht war, hat sich durch Donald Trump und Kristi Noem zu einer Überwachung ausgeweitet, die sich längst über ganze Bundesstaaten legt. Die Betroffenen erfahren meist erst davon, wenn sie die Lichter eines Streifenwagens im Rückspiegel sehen.

Alek Schott

Alek Schott aus Houston ist einer von ihnen. Ganz gewöhnliche Arbeitswege, eine Übernachtung in Grenznähe, ein Treffen mit einer Kollegin – mehr brauchte es nicht, um seine Fahrt in den Datenbanken einer Bundesbehörde als „auffällig“ erscheinen zu lassen. Er wurde angehalten, festgehalten, sein Fahrzeug durchsucht. Die Beamten fanden nichts. Erst später erfuhr er, dass seine Route zuvor digital erfasst und ausgewertet wurde. Ein Vorgang, von dem er nie wusste, dass er überhaupt möglich ist.

Überall im Süden und Westen des Landes stehen heute Geräte, die Nummernschilder erfassen und Bewegungsmuster aufzeichnen. Manche stehen offen am Straßenrand, andere stecken in Verkehrstonnen, Baustellenbaken oder getarnten Boxen am Rand von Landstraßen. Auf den ersten Blick wirken sie unbedeutend, doch sie hängen an einem System, das Millionen Fahrzeuge verfolgt. In Arizona, Texas und Kalifornien reicht die Überwachung tief in das Landesinnere hinein, weit über jene Zonen hinaus, die offiziell als „Grenzbereich“ definiert sind. Kameras stehen an Landstraßen, in Vororten, an Ausfahrten großer Städte – manchmal über hundert Meilen von der Grenze entfernt.

„Es geht längst nicht mehr nur darum, an der Grenze an der Border Patrol vorbeizukommen. Wir sind die United States Border Patrol, und wir können überall in den Vereinigten Staaten von Amerika tätig werden und das Einwanderungsrecht durchsetzen … Niemand ist in diesem Land in Sicherheit …“ sagt der Chefs der US-Grenzschutzbehörde. Michael Banks erklärt am 13. November 2025, dass sie zwar weiterhin im Durchschnitt 44 sogenannte Gotaways pro Tag verzeichnen – aber dass Beamte von der Südgrenze abgezogen werden, um bei Einsätzen im Landesinneren zu helfen. Er sagt, man sehe jedes Mal einen Rückgang der Grenzübertritte, sobald die Behörde in einer groß angelegten Operation im Landesinneren aktiv sei.

Dieses Netz hat inzwischen eine weitere Gruppe erfasst: Touristen. Wer zum ersten Mal im Land unterwegs ist, in einem Mietwagen den Südwesten durchquert oder eine Rundreise durch die Nationalparks unternimmt, kann völlig unbemerkt in dieselben Muster geraten. Mietwagen gelten vielerorts als besonders „interessant“, spontane Abstecher werden von den Algorithmen schnell als untypisch eingestuft, und landschaftliche Nebenrouten, die Reisenden wegen ihrer Schönheit ins Auge fallen, gelten in manchen Behördenkreisen als vermeidende Strecke. Für die Reisenden ist das völlig harmlos, für das System ein Anstoß zum Eingreifen. Niemand erklärt das an der Grenze, niemand weist darauf hin. Die meisten Touristen merken erst etwas, wenn sie auf dem Seitenstreifen stehen und Beamte beginnen, Fragen zu stellen, die in keinen Reiseplan passen.

Die Kontrollstopps folgen meist demselben Ablauf. Offiziell geht es um Kleinigkeiten – eine vermutete Geschwindigkeitsüberschreitung, ein fehlender Blinker, eine Kleinigkeit an der Windschutzscheibe. Doch diese Begründungen sind oft nur Fassade. Die Entscheidung fällt zuvor: Eine Lizenzkamera scannt ein Nummernschild, ein Algorithmus bewertet die Route, ein Beamter klickt eine interne Meldung weiter, und kurze Zeit später setzt sich ein Streifenwagen in Bewegung. In manchen Fällen wissen die kontrollierenden Polizisten selbst nicht genau, warum sie jemanden anhalten sollen. Sie bekommen ein Kennzeichen, eine grobe Anweisung – und handeln.

Der Möbeltransporteur aus South Carolina erlebte das auf drastische Weise. Er fuhr eine Lieferung nach Texas aus und wurde dort festgehalten. Die Behörden fanden nichts – kein Schmuggelgut, kein illegales Material. Dennoch wurde er verhaftet, sein Wagen beschlagnahmt, seine Bargelder beschlagnahmt. Sein Arbeitgeber musste rund zwanzigtausend Dollar aufbringen, um überhaupt wieder an sein Eigentum zu kommen. Die Strafvorwürfe brachen in sich zusammen, als klar wurde, dass hinter allem lediglich ein Datensatz stand, der eine „ungewöhnliche“ Route registriert hatte.

Innerhalb der Behörden gibt es Chatgruppen, in denen Sheriffs und Grenzschutzbeamte Informationen austauschen. Diese Unterhaltungen zeigen, wie banal die Gründe für eine Kontrolle oft sind: eine Fahrt in die Grenzregion und zurück, ein Hotelaufenthalt zur falschen Zeit, ein kurzer Halt auf einem Parkplatz, eine späte Rückfahrt. Es genügt, um Menschen für längere Zeit festzuhalten, ihre Taschen zu durchsuchen, Fragen zu privaten Beziehungen zu stellen, Social-Media-Profile zu prüfen oder sogar ihre Wohnadressen weiterzugeben.

Was dieses System so schwer durchschaubar macht, ist seine Unsichtbarkeit. Die meisten Kameras sind nicht gekennzeichnet. Über ihre Standorte wird kaum informiert. Selbst Kommunen, in denen sie stehen, wissen oft nicht, wofür die Geräte eingesetzt werden. Einige Bundesstaaten verweigern inzwischen die Herausgabe von Informationen darüber. Andere versuchen, die Rolle der Grenzschutzbehörde bei Kontrollen zu verbergen, indem sie Hinweise aus Berichten löschen oder verharmlosen. Parallel dazu wächst die technische Ausstattung weiter: Drohnen, Wärmebildkameras, mobile Überwachungseinheiten, Förderprogramme, die lokale Polizeibehörden an das Netz anschließen. Eine Behörde, die traditionell den physischen Grenzschutz organisieren sollte, hat sich zu einer Institution entwickelt, die tief in das Landesinnere hineinwirkt – und weit über das hinausgeht, was viele Bürgerinnen und Bürger je erwartet hätten.

Für Alek Schott war der Kontrollstopp nur der Anfang. Erst als er begann, sich zu wehren, erfuhr er, wie weitreichend das System tatsächlich ist. Heute sagt er, dass sein Fall nur deshalb öffentlich wurde, weil er nicht bereit war, alles hinzunehmen. Viele andere, so glaubt er, haben nicht die Zeit, die Mittel oder die Kraft, dagegen anzugehen. Sie fahren weiter, irritiert oder eingeschüchtert, ohne zu wissen, dass ihr Weg sie in eine Datei geführt hat, in der niemand sein möchte. Amerikas Straßen haben sich verändert. Nicht sichtbar, nicht gekennzeichnet, aber deutlich spürbar für diejenigen, die zufällig in die Falllinie eines Systems geraten, das längst nicht mehr nur die Grenzen beobachtet. Es ist ein Netz, das im Hintergrund arbeitet, sich immer weiter ausdehnt und dessen Wirkung viele erst dann begreifen, wenn es für Erklärungen zu spät ist.

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