Russland hat in den laufenden Gesprächen erstmals erkennen lassen, dass ein Beitritt der Ukraine zur Europäischen Union für Moskau akzeptabel sein könnte – als Teil einer möglichen Friedensregelung. Diese Information stammt aus US-Regierungskreisen und fiel zeitlich zusammen mit dem Ende einer weiteren Gesprächsrunde zwischen dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj und Gesandten der US-Regierung in Berlin. Für Kiew ist das ein bemerkenswertes, aber hoch ambivalentes Signal: Es eröffnet eine Option, ohne den zentralen Sicherheitskonflikt wirklich zu lösen.
Die Gespräche in Berlin fanden in dichter Folge statt. Nach einer mehrstündigen Sitzung am Sonntag kamen Selenskyj, der ukrainische Chefunterhändler Rustem Umerow, Trumps Sondergesandter Steve Witkoff, Trumps Schwiegersohn Jared Kushner sowie europäische Vertreter am Montag erneut zusammen. Rund anderthalb Stunden dauerte das Treffen. Umerow sprach anschließend von „echten Fortschritten“. Auch aus Washington hieß es, man sei vorangekommen. Konkrete Ergebnisse blieben jedoch vage – ein Muster, das die Verhandlungen seit Wochen prägt. Im Mittelpunkt steht weiterhin die Frage, welche Zugeständnisse die Ukraine machen soll und welche Sicherheiten sie dafür erhält. Selenskyj hat öffentlich erklärt, dass Kiew bereit wäre, den Antrag auf NATO-Mitgliedschaft fallen zu lassen, sofern die USA und andere westliche Staaten der Ukraine verbindliche Sicherheitsgarantien gewähren, die in ihrer Wirkung den Schutzmechanismen der NATO entsprechen. Er machte zugleich klar, dass dies kein Wunsch, sondern ein erzwungener Schritt wäre. Die NATO bleibt aus ukrainischer Sicht die beste Garantie gegen eine erneute russische Aggression. Doch diese Option hat derzeit nicht die volle Unterstützung aller Bündnispartner.
Genau hier setzt das neue russische Signal an. Moskau betrachtet eine EU-Mitgliedschaft der Ukraine offenbar nicht als sicherheitspolitische Bedrohung. Anders als die NATO wird die Europäische Union vom Kreml nicht als militärisches Bündnis wahrgenommen. Für Russland wäre ein EU-Beitritt Kiews daher hinnehmbar, solange die Ukraine militärisch außen vor bleibt. Für die Ukraine bedeutet das: wirtschaftliche Integration ja, militärischer Schutz nein. Gleichzeitig verschärft Washington den Druck. Die US-Regierung drängt auf eine schnelle Annahme eines von ihr vermittelten Friedensrahmens. Trump will Ergebnisse sehen. Geduld ist in Washington kaum noch vorhanden. Doch genau hier liegt der Konflikt. Während die USA Tempo machen, wird Moskau selbstbewusster und formuliert seine Forderungen deutlicher.
Unverändert zentral bleibt der Streit um die Ostukraine. Große Teile der Region Donezk stehen unter russischer Kontrolle. Präsident Wladimir Putin verlangt, dass die Ukraine auch jene Teile räumt, die sie bislang noch hält. Das ist für Kiew nicht akzeptabel. Selenskyj hat wiederholt erklärt, dass territoriale Zugeständnisse jenseits der aktuellen Frontlinie ausgeschlossen sind. Ein Frieden, der auf dem Verlust weiteren Landes basiert, wäre politisch und gesellschaftlich nicht durchsetzbar.
Aus Berlin kam in diesem Zusammenhang eine nüchterne Einschätzung. Ein Sprecher von Bundeskanzler Friedrich Merz erklärte, die Sicherheitsfrage werde letztlich darüber entscheiden, ob der Krieg tatsächlich endet oder nur eingefroren wird. Merz hatte bereits zuvor gewarnt, dass Europa sich nicht darauf verlassen dürfe, dauerhaft von den USA geschützt zu werden. Russland wolle die europäische Ordnung verändern, nicht nur die Ukraine kontrollieren.
Auch aus Paris kamen Signale der Rückendeckung. Präsident Emmanuel Macron kündigte an, nach Berlin zu reisen, um die Gespräche zu begleiten. Selenskyj hatte zuvor betont, wie wichtig die enge Abstimmung mit Frankreich und anderen europäischen Partnern sei. Europa versucht, geschlossen aufzutreten – auch um zu verhindern, dass über die Köpfe der Ukraine hinweg entschieden wird. Der Kreml reagierte wie gewohnt abwartend. Man erwarte eine Unterrichtung durch die US-Seite, hieß es aus Moskau. Auf die Frage, ob ein Abkommen bis Weihnachten möglich sei, winkte Kremlsprecher Dmitri Peskow ab. Zeitpläne vorherzusagen sei undankbar. Präsident Putin sei offen für einen ernsthaften Frieden, aber nicht für Manöver, die auf Verzögerung abzielten. Gleichzeitig bestritt Putin erneut jede Absicht, NATO-Staaten anzugreifen.
Während auf diplomatischer Ebene über Optionen gesprochen wird, geht der Krieg weiter. In der Nacht meldete die Ukraine massive russische Angriffe mit Raketen und Drohnen. Russland wiederum berichtete von ukrainischen Drohnenangriffen auf sein Territorium. Die Realität an der Front steht in scharfem Kontrast zu den Formulierungen der Verhandler. Das russische Signal zur EU-Mitgliedschaft der Ukraine ist daher kein Durchbruch, sondern ein taktischer Schritt. Es verschiebt den Fokus weg von militärischer Sicherheit hin zu wirtschaftlicher Integration. Für Moskau ist das kalkulierbar. Für die Ukraine ist es riskant. Selenskyj bewegt sich auf einem schmalen Korridor zwischen westlichem Druck, russischen Forderungen und der eigenen roten Linie: kein weiteres Land abzugeben und keine Sicherheit auf dem Papier zu akzeptieren.
Ob aus dem Angebot mehr wird als ein Gesprächspunkt, ist offen. Klar ist nur: Ein Frieden, der allein auf EU-Perspektiven baut, ohne belastbare Sicherheitsgarantien, würde die zentrale Frage unbeantwortet lassen. Und genau diese Frage entscheidet darüber, ob der Krieg endet – oder nur eine Pause einlegt.
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