Die Luft auf Chicagos South Side ist seit Dienstagmittag dick vor Wut – und vor Tränengas. In einem Wohnviertel, wo Kinder spielten und Menschen ihre Einkäufe erledigten, jagten Beamte der US-Grenzschutzbehörde einen Mann durch die Straßen, rammten Fahrzeuge, zogen Waffen, setzten Gasgranaten ein. Was als Verkehrskontrolle begann, endete in einer Szene, die an lateinamerikanische Militärdiktaturen erinnert: gepanzerte Uniformen, schreiende Anwohner, hustende Polizisten, eine Straße im weißen Nebel des Staates. Die Behörden sprechen von einer „Verfolgungsfahrt“. Doch das ist gelogen. Wir sprechen von einem Überfall, anders war dieses Ausmaß nicht mehr zu bezeichnen. Der Fahrer, so das Department of Homeland Security, sei „mutmaßlich illegal im Land“ und habe einen Grenzschutzwagen gerammt, bevor er floh. Nach wenigen Minuten war die Jagd vorbei – doch der Schaden begann erst. Als Anwohner protestierten, setzten die Beamten Tränengas ein, um die Menge zu zerstreuen. Es war kein Einzelfall: In den vergangenen Wochen haben Bundesagenten mehrfach in Wohnvierteln Tränengas eingesetzt – in Albany Park, auf der West Side, jetzt im Süden. Immer mit der gleichen Rechtfertigung: nationale Sicherheit.

Doch was hier geschieht, hat mit Grenzsicherung längst nichts mehr zu tun. Es ist der Export der Abschottungspolitik in die Städte, ein Krieg gegen Zivilgesellschaft unter dem Etikett „Operation Midway Blitz“. ICE- und Border-Patrol-Agenten, ursprünglich zuständig für den Grenzraum, agieren mittlerweile tief im Inneren des Landes – als ob jede Straße zur Grenze geworden wäre. Das Department of Homeland Security hat sich von einer Behörde des Schutzes in eine des Schreckens verwandelt.
Selbst für Chicago, eine Stadt mit langer Geschichte politischer Proteste, ist die Eskalation beispiellos. Dreizehn Polizisten wurden laut Behörden versehentlich dem Gas ausgesetzt – ein Symbol für das Chaos einer Operation, die niemand mehr kontrolliert. Gouverneur J. B. Pritzker verurteilte den Einsatz scharf: „Abscheulich“, nannte er die Behandlung der Demonstranten. Menschen seien mit Tränengas, Pfefferkugeln und Gummigeschossen angegriffen worden, „nur weil sie Schilder hochhalten und ihre Meinung sagen“.

Juristisch ist der Einsatz zudem ein offener Verstoß gegen das laufende Gerichtsurteil, das den Einsatz von Tränengas, Pfefferkugeln und ähnlichen „crowd control agents“ in zivilen Wohngebieten untersagt. Bereits im Juli hatte Bundesrichterin Rebecca Pallmeyer die Regierung in Washington davor gewarnt, Bundesbehörden „außerhalb klarer Sicherheitszonen“ einzusetzen. Dass ICE und Border Patrol dennoch in Chicago operieren, ist mehr als ein institutioneller Rechtsbruch – es ist eine Missachtung der Gewaltenteilung, ausgeführt im Namen der öffentlichen Ordnung.
Ein Satz, der in einem anderen Land banal wäre, in den USA des Jahres 2025 aber wie eine Anklage klingt. Das Tränengas traf auch Menschen, die nichts mit der Szene zu tun hatten: Passanten, Familien, ältere Menschen. Andrew Denton, ein Anwohner, wurde getroffen, als er vor einem Lebensmittelgeschäft auf der West Side stand. „Da waren Kinder draußen – Grundschüler in der Pause“, sagte er. „Es ist traurig, dass das die Realität ist. Dass die Regierung ihre eigenen Städte so behandelt.“

Währenddessen wachsen die Proteste. Aktivisten blockieren Fahrzeuge der Bundesbehörden, begleiten deren Kolonnen, filmen jede Bewegung. Vor der Abschiebeanstalt in Broadview stehen Demonstranten Tag und Nacht. Die Regierung reagiert mit Härte. Erst letzte Woche wurden zwei Personen angeklagt, weil sie angeblich ein Fahrzeug der Grenzschutzbehörde „eingekreist“ hatten. Der Agent schoss fünfmal auf die Frau – sie überlebte. Beide Angeklagten wurden gegen Kaution freigelassen. Das Muster ist klar: Eine Regierung, die seit Monaten die Nationalgarde in demokratisch regierte Städte entsendet, verschiebt ihre Strategie – von Kontrolle an der Grenze zu Kontrolle im Inneren. Der „Feind“ ist nicht mehr der Schmuggler oder der Schleuser, sondern der Bürger selbst. Chicago, einst Symbol des industriellen Aufstiegs, ist zum Testlabor geworden: Wie weit kann man Gewalt als Verwaltungspolitik tarnen, bevor die Gesellschaft sich wehrt? Sie wehrt sich und Chicago bereitet sich auf den nächsten Krieg bereits vor.
Die Antwort scheint nah. Die Proteste wachsen, auch in Springfield, wo Aktivisten am Dienstag für die Ausweitung des sogenannten Trust Act demonstrierten – ein Gesetz, das die Zusammenarbeit lokaler Behörden mit ICE verbietet. „Sanctuary Cities“ sind zu Inseln des Widerstands geworden, juristisch wie moralisch. Doch während die Politik streitet, atmen die Menschen auf Chicagos Straßen Tränengas ein. Kinder husten, Erwachsene filmen, und die Regierung schweigt. Die offizielle Sprachregelung lautet „Crowd Control Measures“. In Wahrheit ist es die Sprache der Einschüchterung.
Der „Grenzschutz“ hat seine Grenze verloren – räumlich, rechtlich, moralisch. Was sich in Chicago abspielt, ist kein Unfall, sondern ein System. Eine Regierung, die Tränengas auf ihre Bürger richtet, hat den inneren Kompass verloren. Und eine Gesellschaft, die das hinnimmt, verliert am Ende sich selbst.
Investigativer Journalismus braucht Mut, Haltung und auch Deine Unterstützung.
Stärken bitte auch Sie unseren journalistischen Kampf gegen Rechtspopulismus und Menschenrechtsverstöße. Wir möchten uns nicht über eine Bezahlschranke finanzieren, damit jeder unsere Recherchen lesen kann – unabhängig von Einkommen oder Herkunft. Vielen Dank!