Ein Kopierfehler, eine Seite – und das Internet eröffnete die Erzählung von Tausendundeinem Geheimnis

VonRainer Hofmann

Dezember 27, 2025

Kaum hatte das US-Justizministerium Ende Dezember 2025 neue Akten zum Fall Jeffrey Epstein veröffentlicht, begann im Netz ein Wettlauf um vermeintliche Abkürzungen zur Wahrheit. Ein einfacher Griff zur Maus, hieß es, reiche aus: Text markieren, kopieren, einfügen – und schon ließen sich geschwärzte Passagen lesen. Was wie ein technischer Offenbarungseid der Behörden klang, entpuppte sich bei genauerem Hinsehen als deutlich komplizierter.

„Dass eine einzige Seite lesbar wurde, reichte aus, um aus einem technischen Fehler eine globale Enthüllung zu basteln.“ – Von Hobby-Anonymous bis hin zum Social-Media-Post-Verteiler wurden die wunderbarsten Tricks gezeigt, wie man die Schwärzungen entfernt. Wieder einmal der Wahnsinn in Reinkultur.

Der Auslöser war real. Unter den tausenden Seiten, die das Justizministerium in mehreren Paketen veröffentlichte, fand sich ein Dokument, bei dem die Schwärzung nur optisch war. Wer den Text kopierte und in ein anderes Programm einfügte, konnte lesen, was eigentlich verborgen sein sollte. Es handelte sich um eine Gerichtsakte aus dem Jahr 2022 zur Verwaltung von Epsteins Nachlass. Drei vollständig geschwärzte Absätze erschienen beim Einfügen plötzlich im Klartext. Darin ging es um Zahlungen an Zeugen, Einschüchterung von Opfern und die Anweisung, Beweise zu vernichten.

Auch Medien in Deutschland eröffneten die Erzählung von Tausendundeinem Geheimnis – Recherche? = FehlanzeigeVerantwortung? = Fehlanzeige

Dieser eine Befund genügte, um die Erzählung explodieren zu lassen. In den Medien, auf Tiktok, X, Instagram, bei Facebook und anderen Plattformen kursierte die Behauptung, auf diese Weise ließen sich große Teile der Akten „entsperren“. Besonders hartnäckig hielt sich die Zahl von mehr als 600 angeblich versteckten Nennungen des Namens Donald Trump. Totaler Unsinn. Die Überprüfung bremst diese Dynamik deutlich aus. Ja, das Dokument existiert. Ja, die Schwärzung ließ sich dort mit einem simplen Kopieren umgehen. Doch genau an diesem Punkt endet die Sensation. Bei den meisten anderen Akten funktionierte diese Methode nicht. Ob Gerichtsunterlagen aus dem Verfahren gegen Ghislaine Maxwell oder E-Mail-Korrespondenzen aus den neueren Paketen – die Schwärzungen blieben auch nach dem Einfügen unlesbar. Von einem systematischen Fehler kann keine Rede sein.

Noch deutlicher wird das beim Blick auf die angeblichen Trump-Nennungen. Die Screenshots, die im Netz kursierten, auf die die weißen Ritter der ungeprüften Informationsteilung, einzig für ihre eigenen Likes und Ego dient, zeigten Textstellen mit seinem Namen, versehen mit Dateinummern. Wer diese Dateien tatsächlich fand, stellte fest: Der Name war dort gar nicht geschwärzt. Er war von Anfang an sichtbar. In zwei von uns überprüfbaren Fällen stimmten die kursierenden Textstellen Wort für Wort mit frei lesbaren Passagen überein. Andere Dateinummern ließen sich gar nicht mehr zuordnen oder führten zu völlig anderen Dokumenten.

Ein Teil der Verwirrung lässt sich erklären. Das Justizministerium veröffentlichte das dritte Aktenpaket zunächst am Nachmittag des 22. Dezember 2025, nahm es wenige Stunden später wieder offline und stellte es kurz vor Mitternacht erneut ein. Ob in dieser Phase weitere Schwärzungen vorgenommen oder Dateien neu sortiert wurden, blieb offen. Mehrere Medien berichteten, dass sich Nummerierungen und Inhalte zwischen erster und zweiter Version unterschieden. Damit wurde es im Nachhinein unmöglich, jede im Netz behauptete Fundstelle zu überprüfen.

Was bleibt, ist ein nüchternes Bild. Es gab einen klaren technischen Fehler bei einem einzelnen Dokument. Wie viele weitere davon betroffen sind, weiß niemand. Hinweise auf eine massenhafte, heimliche Freilegung brisanter Namen gibt es nicht. Und die oft zitierte Zahl hunderter versteckter Trump-Erwähnungen hält einer Überprüfung bislang nicht stand.

Diese Episode sagt weniger über den Zustand der Akten aus als über den Umgang mit ihnen durch die Medien und die, die solche Informationen einfach übernehmen, teilen, bis der Arzt kommt. In einem Umfeld, das von berechtigtem Misstrauen gegenüber staatlicher Transparenz geprägt ist, reichen kleine Lücken, um große Gewissheiten zu behaupten. Doch gerade im Fall Epstein, der von belegtem Missbrauch und realem Machtmissbrauch gekennzeichnet ist, hilft Übertreibung niemandem. Sie verschiebt den Fokus von dem, was belegt ist, hin zu dem, was spektakulär klingt.

Ein Kopieren ersetzt keine Aufarbeitung. Und ein technischer Fehler in einer Akte, in einem Dokument, macht aus tausenden Seiten nicht plötzlich ein offenes Buch. Wer ernsthaft verstehen will, was diese Dokumente aussagen – und was nicht –, muss tiefer lesen als bis zum nächsten Mausklick.

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