Ein Friedensplan ohne Abnehmer – Warum Moskau das neue US-ukrainische Angebot zurückweisen dürfte

VonRainer Hofmann

Dezember 25, 2025

Als Wolodymyr Selenskyj am Dienstag den neuen, 20 Punkte umfassenden Friedensplan vorstellte, war sofort klar, dass hier nicht einfach ein Papier nachgereicht wurde, sondern ein bewusster Bruch mit einem Entwurf, der im Herbst noch wie eine Kapitulation gewirkt hatte. Damals hätte die Ukraine Gebiete abtreten und eine Nato-Mitgliedschaft endgültig ausschließen sollen. Der nun vorgelegte Plan ist anders. Er ist gemeinsam mit den Vereinigten Staaten erarbeitet worden, enthält Sicherheitszusagen, die künftige russische Angriffe verhindern sollen, und skizziert den Wiederaufbau eines zerstörten Landes. Selenskyj präsentierte ihn als ernsthaften Kompromiss gegenüber dem Vorschlag, den im November der russische Sondergesandte Kirill Dmitrijew zusammen mit Trumps Emissär Steve Witkoff vorgelegt hatte. Doch genau dieser Anspruch macht den Plan aus Moskauer Sicht kaum akzeptabel.

Im Kreml wird das neue Papier nicht als Ausgleich, sondern als Provokation gelesen. In russischen Analysekanälen war schnell von einer Farce die Rede. Ein Moskauer Außenpolitikexperte schrieb sinngemäß, das Ziel sei durchsichtig: Man wolle den Entwurf in Washington als vernünftig verkaufen, um Russland anschließend die Schuld zu geben, wenn er scheitere. Diese Lesart passt zur Stimmung in einer Führung, die sich militärisch im Vorteil sieht und politisch kaum Spielraum hat, einen Kompromiss als Sieg zu verkaufen. Wladimir Putin hat seine Forderungen in den vergangenen zwei Jahren kaum verändert. Die Ukraine soll ihre Truppen aus den verbliebenen Teilen der Regionen Donezk und Luhansk abziehen, eine Nato-Mitgliedschaft soll dauerhaft ausgeschlossen werden. Diese Linie bestätigte er erst vor wenigen Tagen auf seiner jährlichen Pressekonferenz. Zwar sprach er von möglichen Zugeständnissen, hinter denen Beobachter einen Rückzug aus Teilen der besetzten Gebiete in Charkiw und Saporischschja vermuten. Gleichzeitig machte er deutlich, dass Russland bereit sei, weiterzukämpfen, um die Region Donezk vollständig unter Kontrolle zu bringen.

Der neue ukrainisch-amerikanische Plan kollidiert genau an diesem Punkt mit den russischen Erwartungen. Er verlangt den vollständigen Abzug russischer Truppen aus Dnipropetrowsk, Mykolajiw, Sumy und Charkiw. Für Teile der Region Donezk ist eine entmilitarisierte Zone vorgesehen, allerdings nur unter der Bedingung, dass Russland im Gegenzug Gebiete räumt. Auch beim Atomkraftwerk Saporischschja bleibt der Entwurf hart. Moskau hält die Anlage besetzt, Kiew drängt auf eine internationale Lösung unter Beteiligung der USA. Für russische Kommentatoren ist das ein Ausschlusskriterium. Ohne Bewegung bei Territorien und dem Kraftwerk sei der Plan nicht verhandelbar, heißt es.

Dass Russland sich eine Ablehnung leisten kann, liegt nicht nur an der politischen Rhetorik, sondern auch an nüchternen Kalkulationen. Der Krieg hat die russische Wirtschaft schwer belastet. Die Zinsen sind auf Rekordniveau, das Wachstum rutscht in Richtung Stagnation. Dennoch sehen Analysten keinen unmittelbaren Zusammenbruch, der den Kreml zu einem Kurswechsel zwingen würde. Trotz westlicher Sanktionen bleibt Moskau handlungsfähig. Nach russischen Angaben haben allein im Jahr 2025 mehr als 400.000 Männer neue Verträge für den Armeedienst unterschrieben, Zahlen, die sich mit Schätzungen unabhängiger Forscher decken. Der stetige Nachschub an Soldaten erlaubt es der Führung, hohe Verluste in Kauf zu nehmen und den Krieg fortzusetzen. Militärisch kontrolliert Russland inzwischen rund drei Viertel der Region Donezk. Setzt sich der Vormarsch im bisherigen Tempo fort, könnten die verbliebenen ukrainischen Gebiete dort innerhalb von etwa anderthalb Jahren fallen. Diese Aussicht stärkt jene Kräfte im Machtapparat, die keinen Grund sehen, jetzt nachzugeben.

Gleichzeitig hat Moskau ein Interesse daran, überhaupt weiter zu verhandeln. Gespräche mit Washington halten die Beziehung zur aktuellen US-Regierung funktionsfähig und verhindern, dass Russland allein als Blockierer dasteht. Zudem verschaffen sie Zeit. Neue Sanktionen oder weitere wirtschaftliche Einschränkungen lassen sich so verzögern. Die im Oktober von Präsident Trump verhängten Maßnahmen gegen die Ölkonzerne Rosneft und Lukoil haben bereits dazu geführt, dass russisches Öl mit deutlich höheren Abschlägen verkauft werden muss. Jeder Aufschub zählt. Nicht zuletzt nutzen die zähen Verhandlungen einen weiteren Effekt: Sie vertiefen Spannungen zwischen der Ukraine und ihren westlichen Partnern. Während in verschiedenen Hauptstädten über Details gestritten wird, entstehen Reibungen, die Moskau aufmerksam beobachtet. Der Kremlsprecher Dmitri Peskow erklärte am Mittwoch, Putin sei über den neuen Plan informiert worden, Russland formuliere nun seine Position. Die amerikanische Seite kenne die Grundlinien dieser Haltung seit Langem, fügte er hinzu.

In Kiew ist man sich der Lage bewusst. Ukrainische Beobachter gehen nicht davon aus, dass der Kreml ernsthaft an einem Ende des Krieges interessiert ist. Solange Russland militärisch vorankommt und innenpolitisch keinen Druck spürt, bleibt der Anreiz gering, selbst kleine Zugeständnisse zu machen. Aus dieser Perspektive ist die Debatte über Trumps Friedensplan vor allem ein taktisches Spiel. Moskau hält den Dialog offen, um in Washington als gesprächsbereit zu gelten, während es gleichzeitig darauf setzt, die Differenzen zwischen den USA und der Ukraine zu vergrößern. So steht der neue Plan zwischen allen Fronten. Für Kiew ist er ein Versuch, Sicherheit und Wiederaufbau zu sichern, ohne erneut zur Aufgabe gezwungen zu werden. Für Washington ist er ein Instrument, um Bewegung in festgefahrene Gespräche zu bringen. Für den Kreml jedoch ist er derzeit vor allem eines: ein Angebot, das zu wenig hergibt und zu viel verlangt. Solange sich an dieser Einschätzung nichts ändert, dürfte Moskau ihn ablehnen – und der Krieg weitergehen.

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Dagmar Schatz
Dagmar Schatz
31 Minuten zuvor

Amerikanische Sicherheitsgarantien? Dafür kann sich doch niemand was kaufen. Weiß man doch seit Budapest ’94….

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