Ein Entwurf namens Wahrheit – und ein Präsident, der ihn nicht veröffentlichte

VonRainer Hofmann

Dezember 15, 2025

Das Foto wirkt beiläufig, fast unabsichtlich. Ein Schreibtisch im Oval Office, darauf ein einzelnes Blatt Papier. Oben steht „Entwurf Wahrheit“. Eine Hand ruht darauf, als halte sie den Text fest – oder als verhindere sie, dass er den Weg nach draußen findet. Erst beim zweiten Blick wird deutlich, was hier zu sehen ist: kein veröffentlichter Beitrag, sondern eine fertig formulierte Mitteilung, die nie erschien.

Der Inhalt ist nicht nüchtern. Es geht um schwere Unwetter im Bundesstaat Washington. Um Stürme, Überschwemmungen, Erdrutsche. Um eine genehmigte Katastrophenerklärung, um Notfallmaßnahmen, um direkte föderale Hilfe. Gedanken und Gebete für die Betroffenen, entsandte Ressourcen, ein formeller Dank für die Aufmerksamkeit. Genau die Art von Erklärung, die Präsidenten in solchen Situationen routinemäßig veröffentlichen. Nur geschah das nicht.

Während Häuser beschädigt wurden, Straßen überflutet waren und Menschen ihre Wohnungen verlassen mussten, blieb dieser Text auf dem Papier. Auf der Plattform des Präsidenten erschien er nicht. Stattdessen wurden andere Botschaften verbreitet: Eigenlob zur Zollpolitik, Angriffe auf Migranten, hübsche Bilder von sich, öffentlicher Druck auf Abgeordnete. Zeit war vorhanden. Aufmerksamkeit ebenso. Der vorbereitete Text blieb dennoch liegen. Bemerkenswert ist nicht, was in diesem Entwurf steht, sondern dass es ihn gibt. Der Präsident hatte den Text formuliert, vollständig, bereit zur Veröffentlichung. Die staatliche Reaktion existierte – aber nur als Entwurf.

Dass dieser Entwurf sichtbar wurde, war kein gezielter Schritt. Eric Trump veröffentlichte Fotos aus dem Oval Office, auf dem das Blatt deutlich zu erkennen war. Ein interner Moment wurde öffentlich, ohne dass er es sein sollte. Kein klassischer Leak, keine Enthüllung geheimer Inhalte. Sondern ein unbeabsichtigter Einblick in Prioritäten. Der Präsident verfügte über eine Mitteilung, die Verantwortung signalisiert hätte. Er hatte sie geschrieben. Und er ließ sie liegen. Öffentlich blieb nicht die Reaktion, sondern das Ausbleiben. Dass ausgerechnet eine Erklärung zu einer Naturkatastrophe unveröffentlicht blieb, während andere Inhalte ihren Weg nach draußen fanden, ist keine Panne. Es ist Donald Trump, einen Präsidenten, der selbst bei formellen Aufgaben zwischen Vorbereitung und Öffentlichkeit stehen bleibt. Einen Staat, der handlungsfähig sein will, mit einem handlungsunfähigen Präsidenten. Und eine Wahrheit, die formuliert war – und dennoch nicht gesendet wurde.

Manchmal sagt nicht das Gesagte etwas über Macht aus, sondern das, was bereits geschrieben war und liegen blieb.

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Anja
Anja
4 Stunden zuvor

Ganz ehrlich, er wird sie sicher nicht geschrieben haben. Die kam aus seinem Büro, aber war für ihn nicht wichtig genug, um darauf zu reagieren.

Anja
Anja
2 Stunden zuvor
Antwort auf  Rainer Hofmann

Ich verstehe den Punkt, Rainer. Für mich ist es aber noch schlimmer, dass für ihn diese Memo nichts wert ist. Wenn er es selbst geschrieben hätte, hätte er sich zumindest damit befasst. Wahrscheinlich hat er den Zettel gar nicht gelesen, hatte ja wohl wichtigeres zu tun.  😥 

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