Es beginnt selten mit einer Kette am Tor oder einem bewaffneten Wächter. Meist beginnt es mit einem Versprechen. Ein verlockendes Angebot, ein geschöntes Foto, die Illusion eines Neuanfangs. Bei Dashima Otschirnimaewa, einer jungen Frau aus einer burjatischen Familie, in der über Generationen Schafe geschoren wurden, war es eine Anzeige für Modeljobs in Thailand. Hohe Gagen, große Agenturen, ein bequemes Hotel – der Traum eines schnellen Aufstiegs. Doch der Weg führte nicht zu Fotoshootings in Bangkok, sondern in einen Raum, in dem Menschenrechte seit Jahren keine Bedeutung mehr haben.

Dashima war nie jemand, der an einem Ort blieb. Ihr Vater, Tumen Otschirnimaew, hatte seine Herkunft ebenfalls hinter sich gelassen und war Sanitäter in einer Spezialeinheit des G.R.U. geworden. Seine Tochter schlug zunächst einen nüchternen Weg ein, studierte am Perm-Institut des Strafvollzugs, schrieb ihre Abschlussarbeit über den Handel mit Waffen in Armenien und Kasachstan und landete schließlich als Aufseherin in einer Frauenkolonie. Die Arbeit dort ernüchterte sie schnell. Sie kündigte, verlor einen Prozess um die Rückzahlung ihrer Ausbildungskosten und suchte einen Weg hinaus – zuerst in die Türkei, dann in die Welt der Online-Marketing-Versprechen, in der man Reichtum mit drei Sätzen auf dem Sofa erzielen könne. Es hielt nicht lange. Und irgendwann, im Frühjahr 2025, entdeckte sie jenes Modelangebot.
Wer sie in Thailand erwartete, rechnete mit einer professionellen Bewerberin. Es dauerte kaum Minuten, bis auffiel, dass die Angaben in ihrer Bewerbung nicht stimmten. Der angebliche Arbeitgeber verlangte Geld für den Flug, behielt ihren Pass ein und erhob zusätzliche Gebühren. Ob Dashima tatsächlich aus der Türkei kam oder – wie ein russischer Konsularbeamter in Guangzhou später behauptete – aus Laos verschleppt wurde, bleibt unklar. Sicher ist nur, dass sie kurz darauf in jener Grenzzone zwischen Thailand und Myanmar landete, in der staatliche Macht nur noch theoretisch existiert und die wahre Kontrolle längst bei Milizen, Syndikaten und bewaffneten Gruppen liegt.
Dort stehen mehrstöckige Betonbauten neben improvisierten Unterkünften. In einem Gebäudekomplex befindet sich ein Callcenter, wenige Schritte weiter ein Casino, daneben Frauenquartiere, Serverräume, kleine Restaurants und Bars. Eine Stadt im Schatten, betrieben von Gruppen, die niemandem Rechenschaft schuldig sind. Der berüchtigtste Betreiber dieser Region ist ein Mann aus Macau, bekannt unter seinem Spitznamen „Gebrochener Zahn“ (Wan Kuok-koi). Nach einer langen Haftstrafe in China baute er in Myanmar eine Art Mini-Stadt auf, in der rund 40.000 Menschen arbeiten – viele freiwillig, die meisten unfreiwillig.

Ein Teil dieser Stadt gehört einem Zweig der Karen, einem indigenen Volk, das sich seit Jahrzehnten gegen das myanmarische Militär behauptet. Ihre Frauen, meist aus dem Volk der Padaung, tragen schwere Halsringe, was ihnen weltweit den folkloristischen Namen „Giraffenfrauen“ einbrachte. Doch ihre Rolle ist weit weniger romantisch: Einige Karen-Kommandanten verdienen an Vermietungen, am Schutzgeld und an den Strukturen der Betrugszentren. Sie stellen Wachpersonal, organisieren Transporte und kontrollieren Landstriche, in denen der Staat nichts zu sagen hat.
Dashima arbeitete dort als Teil eines Teams, das sich auf russischsprachige Opfer konzentrierte. Sie erfand Lebensgeschichten, erzählte von angeblichen Notlagen, bot erfundene Investments an oder schilderte Gewalt durch einen erfundenen Ehemann. Mit jedem Anruf sollten Männer aus Russland, den baltischen Staaten oder Zentralasien in ein Netz aus Lügen gezogen werden. Zehn Prozent der Einnahmen sollten an die Betrügerinnen gehen – ein Ziel, das die wenigsten erreichten. Wer scheiterte, wurde bestraft. Manche wurden kahlgeschoren, andere tagelang isoliert. So landete auch Dashima in einem der Räume, in denen Fehlverhalten sanktioniert wird.

Über ein heimlich genutztes Telefon gelang es ihr, ihren Vater zu erreichen. Er war zu dieser Zeit im Einsatz in der Ukraine. Dashima bat ihn, sie herauszuholen, erzählte von Geldforderungen, von Drohungen und davon, dass man sie weiterverkaufen wolle. Dieser Anruf setzte die diplomatische Maschinerie in Bewegung. Das russische Außenministerium wurde eingeschaltet, Botschaften und Konsulate erhielten Anweisungen, doch ihre Handlungsmöglichkeiten waren begrenzt. Myanmar ist seit Jahren in einem Zustand, in dem die Zentralregierung nur Teile des Landes kontrolliert. Russland hatte in der Region keinen Hebel. Die eigentliche Macht lag bei China.

China führt seit längerem einen harten Kampf gegen die Betrugsindustrie, weil unzählige Chinesen in diesen Zentren gefoltert oder erpresst werden. Es existiert eine Art halboffizielle chinesische Einsatzstruktur entlang der Grenze, die mit Milizen verhandelt, Druck ausübt, Geld übermittelt oder Gebäude räumen lässt. Über diese Verbindung gelang es, einen Karen-Kommandeur zu erreichen, der wiederum die Freilassung von vier Russinnen organisierte – darunter Dashima. Die Rolle russischer Stellen war auf Kommunikation und formale Betreuung beschränkt. Ohne die chinesischen Behörden und ohne die Karen wäre niemand befreit worden.
Das LEHRBEISPIEL: Wie Russland diese Wahrheit austauscht
Die staatliche Darstellung in Russland sah anders aus. Medien, die dem Kreml nahestehen, verwandelten den Fall in eine patriotische Heldengeschichte. In dieser zweiten Version wird Dashima nicht aus einem chaotischen Verbrechenskomplex herausgeführt – sondern aus den Händen gefährlicher Feinde, die Russland angeblich überall auflauern.

Der Artikel behauptet, Dashima Otschirnimaewa sei von russischen und myanmarischen Behörden aus einem illegalen Callcenter in Myanmar befreit worden und kehre dank ihrer Hilfe nach Hause zurück. Diese Darstellung ist jedoch falsch, weil Russland operativ keinerlei Zugriff in der Region hatte, die Befreiung tatsächlich von chinesischen Diensten und einem Karen-Kommandeur organisiert wurde und weder eine ukrainische Spur noch eine koordiniert arbeitende internationale Polizeieinheit existierte. Die russische Botschaft spielte keine aktive Rolle bei der Rettung, sondern trat erst danach in Erscheinung, während der Artikel so tut, als sei die Befreiung ein Erfolg russischer Staatsstrukturen.
Die ersten Bilder, die russische Staatsmedien verbreiteten, stammten vom Flughafen Bangkok. Dashima steht dort zwischen Diplomaten, freundlich dirigiert, die Kamera perfekt positioniert. Das Video wirkt wie der Abschluss eines Einsatzes, der planvoll und mutig durchgeführt wurde. Kein Wort über die Karen-Miliz, die sie tatsächlich aus dem Zentrum herausbrachte. Kein Wort über die chinesischen Beamten, die die Übergabe ermöglichten. Die Bilder sollten nicht erklären, was wirklich geschah, sondern wofür Russland stehen möchte.
Kurz darauf folgte die nächste Stufe. REN-TV veröffentlichte eine Schlagzeile, die zeigt, wie leicht sich eine Geschichte verdrehen lässt: „Ukrainer verkaufen Russinnen in die Sklaverei nach Myanmar“. Eine angebliche „Karina“ wird als Drahtzieherin präsentiert, als perfide Lockvogel, der junge Russinnen ins Unglück führt. Diese Figur ist frei erfunden. Die reale Frau, deren Foto verwendet wurde, arbeitete zur fraglichen Zeit in Polen in einem Café. Doch das spielt keine Rolle, solange das Feindbild stimmt.

Die Texte zu dieser Schlagzeile wirken wie aus einem einzigen Baukasten: dramatische Schilderungen, anonyme Opfer, angebliche Enthüllungen über „ukrainische Bandenstrukturen“. Keine überprüfbaren Details, keine Quellen, keine Belege – und doch erzeugen die Beiträge ein geschlossenes Bild. Die Botschaft ist eindeutig: Die Gefahr kommt von außen, und Russland beschützt die Seinen.

Gleichzeitig tauchten regionale Artikel auf, etwa aus Irkutsk. Sie übernehmen die staatlichen Mitteilungen nahezu wörtlich. Dort heißt es, die Befreiung sei das Ergebnis „koordinierter Maßnahmen russischer und myanmarischer Polizeikräfte“. Dass diese Behörden in der realen Situation keinerlei Zugriff hatten, bleibt unerwähnt. Der Text passt zu dem, was das Publikum hören soll, nicht zu dem, was tatsächlich geschehen ist. REN-TV lieferte noch eine weitere „Enthüllung“: Man habe die Identität der Menschenhändler herausgefunden. Der Beitrag ist begleitet von einem völlig bedeutungslosen Symbolfoto – ein Glas mit Blumen vor einer grauen Wand. Die angeblichen Täter bleiben gesichtslos, der Text voller Andeutungen und Behauptungen, die sich bei genauer Betrachtung im Nichts auflösen. Es ist ein Paradebeispiel dafür, wie man Recherche ersetzt, indem man sie imitiert.
Diese Nachweise sind mehr als Illustration. Sie zeigen, wie Propaganda arbeitet:
– Wichtige Teile der Realität werden ausgelassen.
– Gegner werden erfunden, wenn die Lage es verlangt.
– Diplomatische Routine wird zu heldenhafter Tat.
– Regionale Medien verstärken die nationalen Erzählungen.
– Pseudo-Ermittlungen suggerieren Tiefe, wo keine ist.
So entsteht eine Geschichte, die sauber klingt, klar verteilt ist und emotional funktioniert – und doch von der Wirklichkeit weiter entfernt ist als jede Verschwörung, die in der Pufferzone erzählt wird.
Dashima gab nach ihrer Rückkehr nach Russland ein kurzes Statement ab, dankte diplomatischen Stellen und verschwand dann wieder. Mit einem neuen Pass, ausgestellt in Bangkok, reiste sie erneut nach Thailand. Ob sie wieder in die Nähe dieser Strukturen geriet oder ein eigenes Leben aufzubauen versuchte, bleibt offen. Dass sie zurückkehrte, entspricht einem Muster: Viele Frauen, die aus Betrugszentren befreit wurden, reisen nach kurzer Zeit wieder dorthin. Schulden, Druck, Hoffnungslosigkeit und fehlende Perspektiven spielen dabei ebenso eine Rolle wie erneute Rekrutierungen.
Wenige Tage nach ihrer Rückkehr rückte die myanmarische Armee in die Grenzregion vor und zerstörte den gesamten Komplex des „Gebrochenen Zahns (Wan Kuok-koi)“. Offiziell war es ein Schlag gegen Kriminalität. Tatsächlich war es das Ergebnis chinesischen Drucks. Die russische Erzählung, man habe einen „russischen Erfolg“ erzielt, spielte dafür keine Rolle. Der Fall zeigt, wie groß der Abstand zwischen Wirklichkeit und Propaganda sein kann. Eine junge Frau, gefangen in einem Netz aus Schulden, Betrug und Gewalt. Ein Auslandsapparat, der vorgibt, Einfluss zu haben, obwohl er faktisch von China abhängig ist. Ein Medienapparat, der aus einer Rettung durch fremde Dienste eine Heldengeschichte macht. Und eine Weltregion, die längst von Strukturen geprägt ist, die stärker wirken als Gesetze, Grenzen oder diplomatische Noten.
In dieser Geschichte steckt wenig Glanz. Sie erzählt von Menschen, die in ein System geraten, das größer ist als sie selbst. Ein System, das ständig wächst, seine Formen wechselt und sich nur für kurze Momente zeigt – meist dann, wenn jemand wie Dashima daraus entkommt. Und selbst dann bleibt offen, wie lange die Freiheit anhält, wenn die Schatten hinter der Grenze weiter wachsen.
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