Die Vergessenen von Calais

VonRainer Hofmann

April 6, 2025

Ein Schicksal am Rand Europas.

In Calais, an der Grenze zwischen Frankreich und Großbritannien, spielt sich eine humanitäre Katastrophe ab, die sich in den Schlagzeilen selten behaupten kann. Während die Welt auf Kriege, Wirtschaftskrisen und politische Skandale blickt, harren Tausende von Menschen in prekären Verhältnissen aus – unsichtbar für die europäische Öffentlichkeit, aber real für diejenigen, die in improvisierten Lagern im Schlamm leben, von der Polizei drangsaliert und von Schleusern ausgebeutet werden. Die französisch-britische Grenze bleibt einer der gefährlichsten Orte für Geflüchtete, die auf eine bessere Zukunft hoffen. Doch für viele endet dieser Traum im Tod.

Allein im Jahr 2024 verloren mindestens 77 Menschen auf dem Weg nach Großbritannien ihr Leben – die höchste Zahl seit Beginn der Aufzeichnungen.

Auch 2025 begann mit tragischen Todesfällen. Am 11. Januar starb ein junger Syrer, als ein völlig überfülltes Schlauchboot leckschlug. Er wurde in dem Chaos zerquetscht, während panische Menschen versuchten, das rettende Ufer zu erreichen. Einen Monat später, am 15. Februar, sank ein Boot vor der Küste von Calais. 69 Menschen konnten gerettet werden, doch einer von ihnen überlebte nicht, trotz aller Wiederbelebungsversuche. Diese Dramen sind kein Einzelfall. Seit Beginn der sogenannten „kleinen Boot-Überfahrten“ im Jahr 2018 sind mehr als 150.000 Menschen über den Ärmelkanal nach Großbritannien gelangt. Viele von ihnen haben ihr Ziel nicht erreicht.

Die Lage an der französischen Küste ist besonders im Winter lebensgefährlich. Der Ärmelkanal ist eine der am stärksten befahrenen Schifffahrtsrouten der Welt, die Wetterbedingungen sind oft rau, und die Boote, in denen die Geflüchteten die Überfahrt wagen, sind meist völlig überfüllt und kaum seetüchtig. Nur die wenigsten tragen Schwimmwesten. Die französischen Behörden warnen regelmäßig vor den Risiken, doch die Hoffnungslosigkeit treibt die Menschen dennoch aufs Wasser.

Die britische Regierung setzt derweil auf Abschreckung. Statt sichere und legale Wege für Migration zu schaffen, werden restriktive Maßnahmen verabschiedet, die einzig das Ziel haben, die Geflüchteten fernzuhalten.

In Calais selbst herrschen Zustände, die an das frühere „Dschungel“-Camp erinnern, das 2016 geräumt wurde. Immer wieder bilden sich informelle Lager, oft kaum mehr als ein paar Zelte und notdürftige Unterkünfte. Die französischen Behörden verfolgen eine harte Linie: Alle zwei Tage werden die Camps zerstört, in Dunkerque einmal pro Woche.

Das nennt sich dann „Eviction Day“ – ein Tag, an dem Polizisten in Vollmontur mit Baggern und Muldenwagen anrücken, um die wenigen Habseligkeiten der Menschen zu vernichten. Die Lager existieren also nur für kurze Zeit, doch die Geflüchteten verschwinden nicht. Sie irren umher, schlagen irgendwo neu ihr notdürftiges Lager auf, bis sie wieder vertrieben werden. Es ist ein Kreislauf der Grausamkeit, der jede Spur von Hoffnung systematisch auslöscht.

Diejenigen, die nicht auf Booten flüchten, riskieren ihr Leben auf andere Weise. Manche versuchen, sich in Lastwagen zu verstecken, um durch den Eurotunnel nach Großbritannien zu gelangen. Andere wagen es sogar, zu schwimmen. Am 10. Februar wurden zwei Leichen geborgen – Menschen, die in den eisigen Fluten ihr Leben verloren, als sie versuchten, zu einem Boot zu gelangen. Jene, die es auf die Schiffe schaffen, sind nicht sicher. Erst kürzlich wurde ein Boot von der französischen Marine gerettet – 70 Menschen an Bord, von denen nur die Hälfte eine Schwimmweste trug. Zwei Menschen wurden bewusstlos aus dem Wasser gezogen, einer konnte wiederbelebt werden, der andere verstarb im Krankenhaus.

Diejenigen, die in den Lagern ausharren, kämpfen jeden Tag um das Nötigste. Hilfsorganisationen wie Utopia 56 und Care4Calais versuchen, das Schlimmste zu verhindern. Sie versorgen die Menschen mit Trinkwasser, verteilen Essen und Kleidung, organisieren notdürftige sanitäre Einrichtungen. Doch es ist ein Tropfen auf den heißen Stein.

Es gibt kaum feste Strukturen, und immer wieder werden selbst diese bescheidenen Hilfsmaßnahmen durch polizeiliche Räumungen zunichtegemacht.

Warum nehmen so viele Menschen all diese Risiken auf sich? Für viele ist Großbritannien die letzte Hoffnung. Manche sprechen bereits Englisch, andere haben dort Familie oder Bekannte. Eine weitere Besonderheit: In Großbritannien gibt es keine Ausweispflicht, was bedeutet, dass es für Menschen ohne Dokumente einfacher ist, sich durchzuschlagen. Zudem greift nach dem Brexit das Dublin-Abkommen nicht mehr. Wer in einem anderen EU-Staat bereits einen abgelehnten Asylantrag hatte, kann in Großbritannien einen neuen stellen.

Die Politik reagiert darauf mit Härte statt mit Lösungen. Die britische Regierung spricht von „Operation Smash“ – einem Vorhaben, das das Geschäftsmodell der Schleuser zerstören soll.

Doch in Wahrheit zielt diese Politik vor allem darauf ab, Geflüchtete abzuschrecken und sie weiter ins Elend zu treiben. Gleichzeitig schieben britische Politiker die Verantwortung auf Frankreich ab, während Frankreich wiederum Großbritannien für die Misere verantwortlich macht. Ein Hin und Her, während die Menschen in den Lagern weiter frieren, hungern und sterben.

Aktivisten, die in Calais helfen, sprechen von den „Vergessenen Europas“. Es sind diejenigen, die keinen Platz in den Nachrichten bekommen, deren Schicksal nicht in politischen Talkshows diskutiert wird. Menschen, die keine Schlagzeilen machen, es sei denn, sie sterben. Die Situation in Calais ist kein Zufall und kein Naturereignis. Sie ist das Ergebnis einer politischen Strategie, die den Schutz von Menschenleben der Abschreckung opfert.

Die Frage ist nicht, wie lange diese Tragödie noch andauern wird. Die Frage ist, wie lange wir noch wegsehen können, bevor wir uns eingestehen müssen, dass wir längst Teil dieses Systems der Grausamkeit geworden sind.

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