Die tickende Zeitbombe der Deindustrialisierung – Warum Berlin jetzt handeln muss, bevor die AfD das Land übernehmen könnte

VonRainer Hofmann

September 1, 2025

Deutschland steht an einem Kipppunkt. Die Nachrichtenlage der letzten Wochen ist eindeutig: Fast 115.000 Industriearbeitsplätze sind innerhalb eines Jahres verschwunden, davon mehr als 50.000 allein in der Automobilbranche, wie eine aktuelle Analyse von EY zeigt.¹ Fabrikhallen werden stillgelegt, Investitionen wandern ab, und in den Werkshallen wächst die Angst vor der Zukunft. Seit 2019 sind in Summe über 217.000 Industriearbeitsplätze verloren gegangen, und Experten rechnen mit weiteren 70.000 bis Ende 2025.¹ Das wäre schon schlimm genug – doch es kommt schlimmer. Diese Angst ist politischer Treibstoff. Sie speist den Aufstieg einer Partei, die keine Antworten bietet, sondern Wut, Ressentiment und Scheinlösungen. Wenn die demokratischen Parteien jetzt nicht handeln, wird die AfD bei der nächsten Bundestagswahl nicht nur in Ostdeutschland stärkste Kraft – sie wird erstmals Koalitionen diktieren können.

Die wirtschaftliche Lage ist ernst, aber sie ist nicht alternativlos. Deutschland hat Spielräume – die Regierung nutzt sie nur nicht. Es reicht nicht, in Talkshows von „Standortpolitik“ zu reden, während Unternehmen ihre Produktion nach Texas oder Tschechien verlagern. Allein das Bosch-Werk in Augsburg streicht 1.200 Stellen bis Ende 2025, ZF Friedrichshafen kündigte den Abbau von 12.000 Jobs weltweit an, davon 4.500 in Deutschland, und BASF in Ludwigshafen schließt ganze Ammoniak-Anlagen, was 2.600 Arbeitsplätze betrifft. Menschen brauchen eine Perspektive. Wer gerade seinen Job bei Bosch oder ZF verloren hat, will nicht hören, dass alles „auf dem richtigen Weg“ sei. Er will wissen: Wann sinkt meine Stromrechnung? Wo finde ich Arbeit? Wie sichere ich meine Familie ab? Die erste Aufgabe der Regierung ist es, die Kostenfalle zu durchbrechen. Industriestrompreise müssen temporär gedeckelt werden – wie es Frankreich vormacht, nicht als Subvention ohne Ende, sondern als Brücke, bis genug erneuerbare Kapazität und Netze stehen, um Preise dauerhaft zu senken. Zweitens: Der Bürokratiewahnsinn, der Investitionen ausbremst, muss weg. Genehmigungen für neue Werke, Batteriefabriken oder Chip-Produktionsstätten dürfen nicht mehr Jahre dauern. BDI-Präsident Siegfried Russwurm warnte zuletzt, dass „Genehmigungszeiten über unsere Wettbewerbsfähigkeit entscheiden“ und ein „Investitionsmoratorium“ drohe, wenn sich nichts ändere.

Doch Kostenentlastung allein wird nicht reichen. Deutschland muss sich trauen, Zukunftsindustrien aggressiv zu fördern. Während die USA mit ihrem Inflation Reduction Act Milliarden in E-Mobilität, Halbleiter und grüne Technologien pumpen, diskutiert Berlin noch über Haushaltsregeln. Jede Woche, die vergeht, ohne dass Förderbescheide ausgezahlt werden, kostet Arbeitsplätze. IG Metall mobilisierte zuletzt 77.000 Beschäftigte bei einem Aktionstag für eine neue Industriepolitik, forderte ein schuldenfinanziertes Investitionspaket und warnte: „Ohne Industrie ist Deutschland ein armes Land.“³ Gleichzeitig braucht es eine radikale Fachkräfteoffensive: schnellere Visa, bessere Integration, Anerkennung von Abschlüssen. Eine Wirtschaft ohne Arbeitskräfte ist wie ein Motor ohne Benzin. Genauso entscheidend ist die soziale Abfederung. Wenn der Strukturwandel wie ein Tsunami über ganze Regionen rollt, muss der Staat die Menschen mitnehmen – nicht nur mit Abfindungen, sondern mit Weiterbildung, mit echten Jobperspektiven. Die Region Saarbrücken etwa verliert bis 2026 mehr als 3.000 Arbeitsplätze in der Autozulieferindustrie, in Eisenach sind 1.400 Stellen im Opel-Werk bedroht. Thyssenkrupp Steel verhandelte gerade über bis zu 11.000 bedrohte Jobs (40 % der Belegschaft) und erzielte ein Restrukturierungsabkommen, das kürzere Arbeitszeiten und Standortgarantien vorsieht – ein Beispiel, das zeigt, wie sehr der Staat gefordert ist, solche Prozesse zu begleiten. Wer heute in Zwickau am Band steht, darf nicht morgen in der Langzeitarbeitslosigkeit landen. Und wer sein Werk schließen sieht, will nicht allein gelassen werden, während Berlin über Haushaltsüberschüsse philosophiert. Der vielleicht wichtigste Punkt aber ist Kommunikation. Diese Regierung muss lernen, ehrlich zu sprechen. Sie muss erklären, warum dieser Umbau notwendig ist, wie lange er dauert, und was er konkret bringt. Wer so tut, als sei alles unter Kontrolle, während Menschen den Boden unter den Füßen verlieren, treibt sie direkt in die Arme der Radikalen.

Die AfD lebt von der Erzählung, dass „die da oben“ die Sorgen der Menschen nicht ernst nehmen. Wer diese Erzählung widerlegen will, muss liefern – nicht mit Symbolpolitik, sondern mit Ergebnissen. Wenn die Regierung bis 2026 keine Wende hinbekommt, wird sie die Wahl nicht nur verlieren – sie wird die Republik verlieren, an Kräfte, die das Fundament der Demokratie untergraben.

¹ EY-Analyse, Juli 2025
² Gesamtmetall, M+E-Industrie Beschäftigungszahlen Mai 2025
³ IG Metall Aktionstag, März 2025

Hintergrund: Deindustrialisierung in Zahlen

Die deutsche Industrie steht unter massivem Druck. Laut einer aktuellen EY-Analyse sind allein im letzten Jahr fast 115.000 Industriearbeitsplätze verschwunden, davon mehr als 50.000 in der Automobilbranche. Seit 2019 summiert sich der Verlust auf über 217.000 Stellen. Experten warnen, dass bis Ende 2025 weitere 70.000 folgen könnten.

Besonders betroffen sind Bosch, ZF Friedrichshafen und BASF, die zusammen zehntausende Arbeitsplätze abbauen. Auch Thyssenkrupp Steel musste Restrukturierungsverträge schließen, um bis zu 11.000 Jobs zu sichern.

BDI-Präsident Siegfried Russwurm warnt vor einem drohenden Investitionsmoratorium, sollte die Politik Genehmigungsverfahren nicht drastisch beschleunigen. IG Metall mobilisierte zuletzt 77.000 Beschäftigte und fordert ein schuldenfinanziertes Investitionspaket, um den Industriestandort zu stabilisieren.

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Franky
Franky
1 Monat zuvor

Spitzen Analyse.

Gabi
Gabi
1 Monat zuvor

Super Analyse 👌 Bitte ans Kanzleramt schicken!

Irene Monreal
Irene Monreal
1 Monat zuvor

Puh, schwere (frustrierend) Kost, trotzdem natürlich danke für diese schonungslose Tatsachenaufstellung. Leider habe ich bei unserer jetzigen Regierung weder Hoffnung auf Ehrlichkeit, noch, dass sie die richtigen Eckpunkte setzt. Auch, was die Bürokratie angeht – ehrlicherweise muss man glaube ich sagen, dass die meisten Verzögerungen von Großprojekten von Interessenverbänden (Umweltschutz, private Gruppen) verursacht werden, was jahrelange Klagen nach sich ziehen kann. Auch ist das Misstrauen in der Bevölkerung groß, was die Unterstützung der Industrie anbelangt, wenn, wie bei VW geschehen, fast die gleiche Summe der staatlichen Hilfen postwendend als Boni und Dividenden ausgezahlt werden, um kurz darauf wieder über ein Minus zu jammern.
Mit unserer Lobby-Union (das „CD“ und „S“ mag ich nicht mehr ausschreiben) wird zwar die Industrie gepampert, leider aber nicht nachhaltig und zukunftsorientiert.
Ich bin nach wie vor der Meinung, dass wir ohne ein Verbot der AfD die nächste „Orban“ – Regierung in der EU verzeichnen werden, wenn die nächstgrößte Partei nichts anderes als AfD-Politik zu bieten hat. Wenn Merz von „Konkurrenten-Beseitigung“ faselt, ist das auch wieder eine Lüge. Er braucht die AfD als Ablenkung, Verstärker und als Bedrohung (wenn ihr sozialen Parteien mich nervt, dann muss ich ja leider mit der AfD…).
Für mich gibt es mittlerweile fast keinen Weg mehr aus dem Dilemma. Die Union ist die stärkste der „noch“ demokratischen Parteien und verlangt praktisch völlige Unterordnung jeder Koalitionspartei, das ist das Gegenteil von dem, was Deutschland braucht.

Bodo
Bodo
1 Monat zuvor

So grausam wahr.

Ela Gatto
Ela Gatto
1 Monat zuvor

Du spricht mir absolut aus der Seele Rainer.

Dein Bericht ist gut recherchiert.

Was Politik Deutschland gut kann, ist alles tot zu diskutieren.
Den x.ten Ausschuss einzuberufen.

Wir brauch „Macher“.
Wir brauchen die Besinnung auf die Stärke unserer Industrie.
Nur damit konnen wir uns eine relativ unabhãngigebZukunft aufbauen.

Aber keine der letzten Regierungen hat das geschafft.
Der „Doppel-Wumms“ der Ampel war eine Nullnummer.
Und von der jetzige Regierung kommt auch nur blablabla.

Ich weiß nicht, wie wir da raus kommen.

Die AfD brüllt nur, schürt Ängste und hat absolut kein Konzept … außer Totalitärismus.
Aber viele Kleingeistige sehen das bicht.
Da wird laut getötet, über genau die wichtigen Punkte … also müssen die doch eine Lösung haben.
Nein, haben sie nicht. Werden sie nicht.
Weil außer Populismus und viel heiße Luft ist fa nichts.

Viktor
Viktor
1 Monat zuvor

Danke für diese schonungslose Darstellung. Mir drängt sich die Analogie der Wandlung Deutschlands zu einem großen Hospiz auf, wo die aktuelle Regierung nicht heilt sondern nur noch begleitet. Bestenfalls Stillstand und warten auf ein Wunder.

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