Es war kurz nach Mitternacht, als Richterin Karin Immergut zum Telefon griff. Draußen in Portland lagen Tränengaswolken über einem einzigen Straßenblock, während in Washington längst neue Einsatzbefehle verschickt wurden. Und während die Öffentlichkeit noch über den ersten Gerichtsbeschluss vom Samstag diskutierte, hatte der Präsident bereits eine neue Eskalationsstufe gezündet – diesmal mit Soldaten aus Kalifornien und Texas. Immergut, eine Juristin, die Donald Trump einst selbst ins Amt berufen hatte, reagierte, wie eine Richterin reagieren muss, wenn ein Präsident den Rechtsstaat herausfordert: Sie erließ eine zweite, erweiterte einstweilige Verfügung – eine Second Temporary Restraining Order –, die das Weiße Haus erneut in die Schranken wies. In ihrem Beschluss heißt es klar und unmissverständlich:
„Die Beklagten werden hiermit vorübergehend daran gehindert, bundesdienstlich unterstellte Mitglieder der Nationalgarde in Oregon einzusetzen.“


Damit untersagte das Gericht nicht nur die geplante Entsendung der Oregon National Guard, sondern auch jeden Versuch, über Umwege Truppen anderer Bundesstaaten in Oregon zu stationieren. Kein juristisches Detail, sondern ein direkter Eingriff in die Macht eines Präsidenten, der glaubt, die föderale Ordnung sei eine Empfehlung, kein Gesetz. Diese zweite Verfügung, unterzeichnet am 5. Oktober 2025, zeigt, dass die Justiz derzeit buchstäblich Tag und Nacht arbeitet, um das Gleichgewicht der Gewaltenteilung aufrechtzuerhalten. Immergut setzte eine Frist: Die Kläger müssen binnen 48 Stunden eine symbolische Sicherheitsleistung von 100 Dollar hinterlegen. Am 17. Oktober soll geprüft werden, ob die Verfügung verlängert wird, am 29. Oktober ist eine kombinierte Hauptverhandlung in Saal 13A des Bundesgerichts in Portland angesetzt.

In der trockenen Sprache juristischer Präzision liest sich das Urteil wie ein Dokument der Gegenwehr. Es macht deutlich, dass das Gericht erkannt hat, was das Weiße Haus tat: Es suchte nach Lücken, um den Beschluss vom Vortag zu umgehen. Und es fand sie – vorübergehend – im Süden. Denn während in Oregon die Nationalgarde blockiert war, zeigte ein internes Schreiben, das uns vorliegt, aus dem Pentagon, wie die Administration längst an einer Ersatzlösung arbeitete. Das Dokument trägt den Briefkopf Secretary of War, 1000 Defense Pentagon, Washington, D.C. und ist an den Adjutanten der texanischen Nationalgarde gerichtet, übermittelt „durch den Gouverneur von Texas“. Unterzeichnet ist es von Verteidigungsminister Pete Hegseth.
Darin heißt es:
„Der Präsident hat mich ermächtigt, mit Ihnen die Mobilisierung von bis zu 400 Mitgliedern der texanischen Nationalgarde zu koordinieren, um bundesstaatliche Schutzmissionen dort durchzuführen, wo sie benötigt werden – einschließlich in den Städten Portland und Chicago.“

Das Schreiben beruft sich auf § 12406 des Title 10 U.S. Code, eine Bestimmung, die dem Präsidenten erlaubt, Nationalgardisten in Bundesdienst zu rufen – allerdings nur in Ausnahmefällen, etwa bei Aufständen oder wenn Gesetze nicht mehr durchgesetzt werden können. Doch in Oregon gibt es keine Aufstände, keine Belagerung, keine Gefährdung der öffentlichen Ordnung. Die Proteste, auf die sich Trump berief, fanden auf einem einzigen Straßenblock vor der Einwanderungsbehörde ICE statt, friedlich, lokal begrenzt, mit Kerzen, Transparenten und Sprechchören.
Die Realität steht also in scharfem Kontrast zu den Drohkulissen aus Washington. Und doch ordnete das Pentagon laut dem Memo an, bis zu 2.000 Nationalgardisten landesweit zu mobilisieren, „um Bundespersonal zu schützen und Eigentum zu sichern, wo gewalttätige Demonstrationen stattfinden oder wahrscheinlich stattfinden werden“. Für Oregon war der Einsatz auf 60 Tage angesetzt – mit Option auf Verlängerung. Das Gericht erkannte darin, was es war: ein Versuch, die föderale Kontrolle der Bundesstaaten zu umgehen. Immergut schrieb, die Vorgehensweise der Regierung stehe „in direktem Widerspruch“ zu ihrer Entscheidung vom Vortag, die Entsendung von Oregons Nationalgarde untersagt hatte.
Kaliforniens Gouverneur Gavin Newsom sprach von einem „atemberaubenden Machtmissbrauch“, Oregons Gouverneurin Tina Kotek von einem „klaren Versuch, das Recht zu beugen“. Selbst Juristen, die Trump nahestehen, bezeichneten die Situation als beispiellos: Noch nie in der Geschichte der Vereinigten Staaten hat ein Präsident gleichzeitig drei Bundesstaaten in einen innerstaatlichen Konflikt verwickelt – Oregon, Kalifornien und Texas.
Richterin Immergut, die ihre Verfügung innerhalb weniger Stunden fertigstellte, ordnete zugleich an, dass alle Anträge auf vorläufige Verfügungen bis zum 17. Oktober eingereicht werden müssen, Antworten bis zum 23., Erwiderungen bis zum 27. – ein Zeitplan, der zeigt, wie ernst das Gericht die Lage einschätzt.
„Es fühlt sich an, als spielten wir juristisches Whac-a-Mole“, sagte Oregons Anwalt Scott Kennedy während der Anhörung. „Kaum stopfen wir ein Schlupfloch, taucht das nächste auf.“
Die Bundesregierung argumentierte, Oregon und Portland hätten keine Klagebefugnis und Kalifornien könne keinen Schaden geltend machen, wenn einige seiner Soldaten in einen Nachbarstaat verlegt würden. Doch Immergut ließ das nicht gelten. Sie betonte, die Bedingungen in Oregon hätten sich nicht verändert, es gebe keinen rechtlichen oder faktischen Grund für den Einsatz der Nationalgarde. Währenddessen verbreitete sich in sozialen Netzwerken das Zitat eines Kommentators, das den Moment besser einfing als jeder Leitartikel:
„Eine Erinnerung daran, dass unsere Justiz Tag und Nacht, sieben Tage die Woche, daran arbeitet, unser Land vor diesem Machtmissbrauch zu schützen.“
Ein Satz, der in seiner Schlichtheit das beschreibt, was sich tatsächlich abspielt: eine Justiz, die im Akkord arbeitet, um die Grenzen der Macht zu wahren – und ein Präsident, der diese Grenzen systematisch austestet.

Am Sonntagabend jubelten einige Dutzend Demonstrierende vor dem ICE-Gebäude in Portland, als sie von der Entscheidung der Richterin erfuhren. Ein Mann, eingehüllt in eine amerikanische Flagge, sagte in die Kameras: „Zum ersten Mal seit Wochen habe ich das Gefühl, dass das Gesetz noch zählt.“ Er wusste vielleicht nicht, dass derselbe Satz wenige Minuten später im Beschluss einer Bundesrichterin in Washington stand – sinngemäß, aber mit derselben Bedeutung. In nüchternem Ton, auf juristischem Papier, doch getragen von derselben Überzeugung: Dass Recht und Verfassung stärker sein müssen als die Launen der Macht.
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