„Aus aktuellem Anlass haben wir das Veröffentlichungsdatum unseres Artikels vom 5. Mai auf den heutigen Tag angepasst. Der Inhalt blieb unverändert.“
Es begann nicht mit einem Schuss. Es begann mit einem Link. Ein Kanal. Die Geschichte von Terrorgram. Eine Nachricht in einer dunklen Ecke des Netzes. Und wie in einem Sturz aus der Zivilisation hinein in eine Welt aus Schatten und Schmutz fanden sich Tausende dort wieder – angelockt von einem Versprechen: Reinheit durch Blut, Ordnung durch Gewalt, Geschichte durch Terror.
Terrorgram, so nannten sie ihr digitales Konstrukt, das, was sie als Bollwerk gegen den „Verfall der weißen Rasse“ begriffen. Es war ein Netzwerk, lose strukturiert, aber ideologisch fest umschlossen, wie die Äste eines Baumes, dessen Wurzeln längst verrottet waren. Neo-Nazis, Apologeten des Völkermords, Jugendliche im Rausch der Leere – sie fanden sich zusammen auf Telegram, einer Plattform, deren Erfinder Pavel Durov einst erklärte, die Freiheit der Rede sei „wichtiger als die Angst vor Terrorismus“.
Und so wuchs Terrorgram. Unbehelligt. Ungezügelt. Und unaufhaltsam. Während westliche Demokratien damit beschäftigt waren, Hass zu definieren, wurde er hier systematisch organisiert. Ein globales Netzwerk, ausgehend von Kanada, der Slowakei, Kalifornien. Mit Verbindungen nach Brasilien, Südafrika, Kroatien. Die Sprache: Englisch, Deutsch, Slowakisch, Memes, Anleitungen, Mordaufrufe.
Die Gesichter dahinter – Matthew Althorpe, der Kanadier aus der Kleinstadt, der auf Telegram den Kanal Terrorwave Refined betrieb, Dallas Humber, eine DJane mit neonfarbenem Haar und nationalsozialistischem Furor, Pavol Beňadik, ein Computerstudent aus der Westslowakei, der nicht nur Sprengstoffanleitungen verfasste, sondern gezielt Jugendliche rekrutierte – unter ihnen Juraj Krajčík. Ein 19-jähriger Schüler, der im Oktober 2022 zwei Menschen vor einer LGBTQ-Bar in Bratislava erschoss, ehe er sich selbst tötete. Er war 16, als er in Beňadiks Chats einstieg. Terrorgram nannte ihn posthum einen „Heiligen“.
Die Heiligen – das war die grausamste Erfindung dieses Netzwerks. Eine neue Ikonografie des Terrors: Brenton Tarrant, der 51 Menschen in Neuseeland erschoss. Timothy McVeigh, der 1995 ein Bundesgebäude in Oklahoma sprengte. Dylan Roof, der neun Schwarze in Charleston ermordete. Man feierte sie mit Kalendern, mit Propagandavideos, mit literarisch aufbereiteten Anleitungen zur Zerstörung. Es war eine neue Sprache des Faschismus. Ästhetisiert, digitalisiert, globalisiert.
Was sie schufen, war ein Ökosystem des Hasses. Auf über 600 Kanälen wurden Bombenbauanleitungen geteilt, Adressen von Politikern, Techniken zur Wasservergiftung, Propaganda für den „Weißen Terror“. Humber selbst vertonte das Manifest des Dollar-General-Attentäters Ryan Palmeter – 183 Mal fiel darin das N-Wort. Ihre Signatur: „Let’s get this party started, Terrorbros.“
Wie eine dunkle Umkehrung der Influencer-Kultur trat Terrorgram auf – nicht für Mode oder Fitness, sondern für Mord und Anarchie. Und die Plattform Telegram? Sie schwieg. Jahre lang. Die Islamisten, so heißt es in einem geheimen Bulletin des Central Florida Intelligence Exchange von 2019, wurden systematisch gelöscht. Die weißen Suprematisten nicht. Nur bei medialem Druck griff man durch.
Was wir sahen, als wir eindrangen
Es gelang uns, direkt in das Netzwerk einzudringen. Über Wochen beobachteten wir ihre Chats, ihre internen Abläufe, ihre Ideologie in Echtzeit. Was wir sahen, war keine anarchistische Spielerei verwirrter Jugendlicher. Es war ein System – fast militärisch organisiert. Arbeitsgruppen, Redaktionspläne, Archivstrukturen. Codesprache, abgestufte Rollenverteilungen, eigene Begrüßungsformeln. Sie nannten sich „Terrorbros“, „Saint Watchers“, „Holy Curators“. Jeder wusste, was er zu tun hatte.
Auffällig war die Zahl der deutschsprachigen Accounts. Nicht nur bei der Verbreitung von Inhalten, sondern auch in der Koordination. IP-Daten, Profilnamen, Archivspiegel, interne Screenshots: Viele Spuren führten nach Sachsen, Thüringen, Bayern. In einigen der PDF-Handbücher fanden sich Passagen auf Deutsch – präzise, juristisch formuliert, mit Verweisen auf bestehende Sicherheitslücken in Infrastrukturplänen der Bundesrepublik.
Eine zentrale Rolle spielten Kanäle, die sich offen auf NSDAP-Ideologie beriefen, kombiniert mit modernster Technik. In einem Kanal, betrieben aus Leipzig, wurden Explosionsdaten analysiert und in automatisierte Tabellen übertragen – inklusive geplanter Reichweite. Die Gruppenstruktur erinnerte an paramilitärische Zellen. Mehrfach tauchten Verweise auf Gruppen wie Der Dritte Weg, Blood & Honour und Freies Thüringen auf. Auch Kontakte zur AfD-nahen Jugendorganisation „Junge Alternative“ – (Mittlerweile aufgelöst) – wurden vereinzelt in privaten Chats erwähnt.
Ein Admin – Tiwaz_Brandenburg – verwaltete ein Archiv mit über 2.000 Dateien: Propagandavideos, Waffenbauanleitungen, Listen von „Volksverrätern“. In einem der Chats wurde diskutiert, ob man den Bahnhof von Halle/Saale als „softes Ziel“ betrachten könne. Der Kontext war militärisch, nicht nur ideologisch.
Ein anderer User – Nordlicht18 – verbreitete deutsche Übersetzungen von Teilen des Manifests von Brenton Tarrant. Er verwies auf „die Notwendigkeit, den Mythos der Zivilgesellschaft zu zerbrechen“. Es war nicht nur ein Hass auf das Fremde – es war ein gezielter Angriff auf das demokratische Fundament.
Die Zersetzung der Wirklichkeit
Terrorgram war kein loses Netzwerk – es war ein organisiertes Projekt zur Zersetzung der Wirklichkeit. Die Strategie glich einem hybriden Krieg: Memes statt Kugeln, PDFs statt Panzer, Propaganda statt Patronen – aber mit der gleichen zerstörerischen Absicht. Es ging darum, junge Menschen zu radikalisieren, zu bewaffnen, zu Heiligen zu erklären – und sie dann zu Märtyrern des digitalen Faschismus zu machen.
In einem Beitrag, veröffentlicht nur Stunden nach dem Attentat in Bratislava, schrieb Humber: „Der Krieg hat begonnen. Unsere Aufgabe ist es, ihn zu beschleunigen.“ Und beschleunigen – accelerate – war das Schlüsselwort: Die Terrorgram-Ideologie war durchdrungen vom Konzept des militant accelerationism, der Idee, durch Terror den Zusammenbruch der Gesellschaft zu erzwingen.
Die neue Tarnung
Heute, nach Razzien, Anklagen und internationalen Sanktionen, ist vieles aus dem Netzwerk gelöscht – aber nicht verschwunden. Die Chats wurden geschlossen, ja. Doch viele der Protagonisten sind auf neue Plattformen ausgewichen. Vor allem X – das frühere Twitter – ist zur neuen Heimat der Terrorgram-Ästhetik geworden. Es gibt dort wieder Heiligensprüche. Wieder Hitler-Memes. Wieder Videos, in denen die Ermordung von Minderheiten gefeiert wird.
Die digitalen Masken sind neu. Doch die Stimmen dahinter sind dieselben.
Und während Telegram verspricht, mit Behörden zu kooperieren, und sein einst gefeierter Gründer Durov in Frankreich unter Anklage steht, bleibt eines unausgesprochen: Der Faschismus von heute trägt keine Uniform mehr. Er trägt Avatare.
Und ein Netz, das ihn schützt.
Fortsetzung folgt…
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