Die letzte Grenze – Wie Südkoreas neuer Präsident und die Friedensbewegung den Abzug der US-Truppen denkbar machen

VonAlan Gallardo

Juni 5, 2025

Es war ein Abend voller Symbolik. Blaue Ballons, leuchtende Kerzen, das Rauschen einer Menge, die nicht nur einen Politiker feierte, sondern eine Vision: Lee Jae-myung, Kandidat der Demokratischen Partei, steht für mehr als einen Regierungswechsel. Er ist das Versprechen auf eine Entspannungspolitik in einer Region, die seit Jahrzehnten im Schatten eines nie beendeten Krieges steht. Die Neuwahl in Südkorea, ausgelöst durch die dramatische Amtsenthebung des ultrakonservativen Präsidenten Yoon Seok-yeol wegen versuchten Staatsstreichs, hat das Land an einen historischen Wendepunkt geführt. Und mit Lee könnte der Friedensprozess nicht nur neu beginnen – er könnte zum ersten Mal ernst gemeint sein.

Südkorea ist seit Jahrzehnten der Vorposten einer amerikanischen Außenpolitik, die sich weniger um regionale Souveränität als um globale Dominanz bemüht. 28.500 US-Soldaten sind auf 15 Militärbasen im Land stationiert. Camp Humphreys, die größte US-Basis außerhalb der Vereinigten Staaten, wurde fast vollständig von Seoul finanziert – 90 Prozent der Baukosten, insgesamt über 10 Milliarden Dollar, stammen aus südkoreanischen Mitteln. Und doch verlangt Washington jährlich hunderte Millionen für den Unterhalt, während sich gleichzeitig eine neue geopolitische Eiszeit zwischen China, Russland und dem Westen verfestigt. Yoon hatte diese Frontstellung perfektioniert: Waffenlieferungen an die Ukraine, gemeinsame Manöver mit den USA und Japan, das gezielte Aufbrechen jeglicher Annäherung an Nordkorea. Das Resultat war eine Eskalation in Serie: Raketenstarts, Verfassungsänderungen in Pjöngjang, und ein Klima der Feindseligkeit, das keine Luft mehr zum Atmen ließ.

Lee Jae-myung steht für einen anderen Ton. Für Dialog statt Provokation. Für eine Politik, die nicht nur das eigene Territorium schützt, sondern die Würde der Menschen im Blick behält – auf beiden Seiten der entmilitarisierten Zone. Doch er wird es nicht leicht haben. Donald Trump, zurück im Weißen Haus, signalisiert zwar Interesse an neuen Gesprächen mit Kim Jong-un – wie schon 2018, als der historische Gipfel von Singapur konkrete Ergebnisse brachte: Rückführung gefallener US-Soldaten, Freilassung amerikanischer Gefangener, ein Moratorium für Raketentests. Doch dieselbe Administration, die damals Türen öffnete, ließ sie in Hanoi wieder zuschlagen – ausgerechnet durch die Hardliner, die sich bis heute in beiden Parteien halten und Entspannungspolitik mit Schwäche gleichsetzen. Das Narrativ der „ständigen Bedrohung“ ist mächtig. Es rechtfertigt Manöver, die als „Routineübungen“ verkauft werden, aber in Wahrheit das Gegenteil von Deeskalation sind. Nuklearfähige Bomber, Flugzeugträger, simulierte Enthauptungsschläge gegen das nordkoreanische Regime – all das unter dem Vorwand der Vorbereitung. Für Pjöngjang sind solche Übungen Kriegsdrohungen. Für viele Südkoreaner:innen sind sie Ausdruck eines fremdgesteuerten Sicherheitsdiskurses, der wenig mit Frieden und viel mit Machtdemonstration zu tun hat.

Dabei gibt es längst eine starke, organisierte Friedensbewegung – in Korea wie in den USA. Organisationen wie Women Cross DMZ, Nodutdol und zahlreiche Graswurzel-Initiativen fordern konkret: das Ende der Manöver, die Reduzierung der Truppen, ein Friedensvertrag. 70 Prozent der Amerikaner, so ergab eine Harris-Umfrage, befürworten ein neues Treffen zwischen Trump und Kim. Die politische Luft ist also nicht nur dünn – sie ist aufgeladen mit Erwartung. Und mit Möglichkeiten.

Auch ökonomisch ergibt sich eine neue Logik: Laut dem US-Militärbasenexperten David Vine kosten die US-Stützpunkte in Südkorea jährlich bis zu 5,3 Milliarden Dollar. Mittel, die auch in Bildung, Gesundheit oder sozialen Wohnungsbau fließen könnten. Ein teilweiser Rückzug – so Vine – wäre ein „Akt der Ernsthaftigkeit“ in einem Friedensprozess, der mehr braucht als Gesten: Er braucht strukturelle Veränderungen. Doch es geht um mehr als Zahlen. Es geht um Gerechtigkeit. Um die Anerkennung von Verletzungen, die nie aufgearbeitet wurden. Koreanische Frauen, die in sogenannten „Monkey Houses“ interniert wurden – staatlich betriebene Lager, in denen unter US-Druck Zwangsbehandlungen gegen Geschlechtskrankheiten stattfanden, um US-Soldaten zu „schützen“. Diese Orte existieren noch heute. Und sie stehen für eine Geschichte, die nie erzählt werden durfte – und die nun endlich öffentlich verhandelt wird.

Lee könnte der Präsident sein, der diese Aufarbeitung ermöglicht. Der nicht nur mit Kim verhandelt, sondern mit der eigenen Vergangenheit. Der neue Gesprächskanäle öffnet, ohne sich von Peking oder Washington instrumentalisieren zu lassen. Der die militärische Logik der Abschreckung durch eine Kultur der Koexistenz ersetzt. Doch er wird dafür nicht nur Mut brauchen, sondern internationale Unterstützung – vor allem aus den USA selbst. Denn eines ist klar: Ohne politischen Druck aus der amerikanischen Zivilgesellschaft wird es keinen dauerhaften Frieden geben. Das Fenster ist offen – aber es schließt sich schnell. Was jetzt zählt, ist nicht der nächste große Gipfel oder die nächste dramatische Überschrift, sondern der Aufbau einer nachhaltigen Friedensarchitektur, getragen von Menschen, nicht von Militärstrategen. Der Koreakrieg hat vier Millionen Menschen das Leben gekostet, Städte zerstört und Familien zerrissen. Er wurde nie beendet, nur eingefroren.

Vielleicht ist es Zeit, ihn endlich zu beenden. Nicht durch Waffen – sondern durch Worte. Nicht durch Drohgebärden – sondern durch Vertrauen. Und vielleicht, ja vielleicht, könnte Lee Jae-myung der erste Präsident sein, der aus dem letzten offenen Konflikt des Kalten Krieges den ersten echten Friedensvertrag des 21. Jahrhunderts macht.

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Ela Gatto
Ela Gatto
3 Monate zuvor

Kim ist ein Diktator. Er macht nur das, was ihm nutzt.
Er hat den mächtigen Aggressor Putin an seiner Seite.
Mit Putin kann man keine Friedensverhandlungen führen.
Das kann man mit Kim auch nicht.
Hoffentlich geht das nicht nach hinten los und Südkorea steht schutzlos da.

Rainer Hofmann
Admin
3 Monate zuvor
Reply to  Ela Gatto

…es wird spannend, das zu verfolgen, aber der weg von südkorea ist kein falscher

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