Es beginnt mit einer Anklage, die lange auf sich warten ließ. Über Jahre hinweg kämpften die Familien der Opfer von Flug MH17 um Gerechtigkeit – gegen die Mühlen der internationalen Politik, gegen die Verweigerung Moskaus, Verantwortung zu übernehmen. Und dann, über ein Jahrzehnt nach jenem schrecklichen Tag, sprach die UNO endlich ein klares Urteil: Russland trägt die Schuld. Fast 300 Menschen verloren am 17. Juli 2014 ihr Leben, als die Maschine von Malaysian Airlines über der Ostukraine abgeschossen wurde. Es war eine Flugnummer, die in den Annalen der Luftfahrtgeschichte zur Mahnung wurde: MH17. Ein BUK-Raketensystem, russischer Bauart, brachte das Flugzeug zum Absturz. Zwei Drittel der Passagiere waren niederländischer Herkunft, 38 Australier und 30 Malaysier saßen an Bord. Niemand überlebte und ein langer Weg zur Wahrheit. Seit jenem Tag kämpften die Niederlande und Australien um Aufklärung. Es war ein Kampf gegen die Zeit, gegen die zähen Verstrickungen geopolitischer Interessen. Doch dann hatte die Internationale Zivilluftfahrtorganisation (ICAO) im Mai 2025 entschieden: Die Schuld liegt bei Russland. Es war das erste Mal in der Geschichte der UNO-Luftfahrtbehörde, dass sie sich in einen Streit zwischen Mitgliedstaaten einmischt. Die Entscheidung war nicht nur symbolisch. Sie ist ein Akt des Widerstands gegen die Versuche Moskaus, die Verantwortung abzuschütteln. „Diese Entscheidung war ein wichtiger Schritt zur Wahrheitsfindung und zur Gerechtigkeit für die Opfer von MH17“, erklärte der niederländische Außenminister Caspar Veldkamp. Auch Australiens Außenministerin Penny Wong machte unmissverständlich klar: „Wir fordern Russland auf, sich endlich seiner Verantwortung zu stellen und Wiedergutmachung zu leisten.“ Wahrheit in Zeiten der Lüge.
Russland reagierte wie erwartet: Ablehnend, unbeeindruckt, kalt. Der Kreml nannte das Urteil „skandalös“. Eine Feststellung, die in ihrer Arroganz kaum zu übertreffen war. Seit Jahren streitet Moskau jede Verantwortung ab, leugnet die Fakten und schützt die Schuldigen. Zwei russische Männer und ein Ukrainer wurden 2022 in den Niederlanden in Abwesenheit verurteilt – wegen Mordes. Russland lieferte sie nicht aus. Die Weltgemeinschaft stand vor einem moralischen Dilemma: Wie geht man mit einem Staat um, der seine Bürger vor Gerechtigkeit schützt und die Schuld an einem Massenmord nicht anerkennt? Die UNO hat keinen direkten Durchsetzungsmechanismus, keine Möglichkeit, die Bestrafung zu erzwingen. Doch die Wahrheit stand nun schwarz auf weiß fest: Russland hatte die internationale Luftfahrtgesetzgebung verletzt. Für die Familien der Opfer war die Entscheidung der ICAO ein Lichtstrahl in dunkler Nacht. Eine späte Anerkennung, dass die Leben ihrer Angehörigen nicht einfach unter die politischen Teppiche gekehrt werden. In den Niederlanden versammelten sich die Hinterbliebenen zu einer Gedenkfeier, hielten Kerzen, sprachen leise Gebete. Die Banner trugen nur ein Wort: „Gerechtigkeit“. Aber die Frage blieb: Was bedeutet Gerechtigkeit in einer Welt, die zögert, Konsequenzen zu ziehen? In einer Welt, in der Mächte wie Russland sich hinter politischer Immunität verstecken? Es sind Fragen, die schmerzen. Fragen, die die kalte Realität des internationalen Rechts offenlegen.
Es bliebt die Erinnerung an einen Sommernachmittag, an dem ein Flugzeug in den Himmel stieg und nie ankam. Die Angehörigen wissen, dass das Urteil der ICAO die Toten nicht zurückbringen kann. Aber es war der erste Schritt, die Wahrheit aus dem kalten Griff der Lüge zu befreien. Vielleicht war es ein Zeichen, dass Unrecht nicht immer ungesühnt bleibt – auch wenn die Schuldigen sich hinter Mauern aus Macht und Propaganda verstecken. Dann folgte am 9. Juli 2025 ein Urteil, das wie ein Donnerschlag durch das Völkerrecht hallt. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg erklärt den russischen Staat offiziell für verantwortlich – verantwortlich für den Abschuss des Malaysia-Airlines-Flugs MH17 über der Ostukraine, verantwortlich für eine lange Reihe von Kriegsverbrechen, systematischer Gewalt und schwersten Menschenrechtsverletzungen in den von Moskau kontrollierten Gebieten. In der vielleicht symbolträchtigsten Entscheidung seiner jüngeren Geschichte verurteilte das oberste Menschenrechtsgericht Europas in einer 501 Seiten umfassenden Urteilsbegründung ein Handeln, das der vorsitzende Richter Mattias Guyomar als „offenkundig unrechtmäßig in großem Umfang“ bezeichnete – und das Gericht selbst als einen beispiellosen Bruch mit der „nach dem Zweiten Weltkrieg geschaffenen internationalen Rechtsordnung“. Neun Jahre nach dem Tag, an dem eine russische Buk-Rakete eine Boeing 777 mit 298 Menschen vom Himmel holte, liefert dieses Urteil erstmals eine unmissverständliche völkerrechtliche Einordnung: Russland war verantwortlich – nicht nur mittelbar, nicht nur politisch, sondern konkret, strukturell, mit voller Kontrolle über die pro-russischen Separatisten, die das System bedienten, das zum Tod von 80 Kindern, 193 Niederländer:innen, 43 Malaysier:innen, 38 Australier:innen und Bürger:innen aus acht weiteren Nationen führte. Und Russland ist es auch, das laut Gericht für die Entführungen ukrainischer Kinder, für die Exekutionen von Zivilisten, für systematische Folter – einschließlich sexualisierter Gewalt – und für die Zerstörung von Rechtsstaatlichkeit in Teilen der Ukraine die Verantwortung trägt.
Die Richter:innen – neben Guyomar unter anderem Ksenija Turković (Kroatien), Armen Harutyunyan (Armenien), Pere Pastor Vilanova (Andorra), Ivana Jelić (Montenegro) und Erik Wennerström (Schweden) – zeichneten ein Bild russischer Kontrolle, das in seiner Klarheit und Dichte kaum Zweifel offenlässt. Die Beweise, so der Gerichtshof, zeigten „eine russische Präsenz und Steuerung auf allen Ebenen“ in den abtrünnigen Gebieten Luhansk und Donezk – bis hin zu militärischen Befehlsketten, Geheimdienststrukturen und paramilitärischen Einheiten, die direkt von Moskau finanziert, ausgestattet und befehligt wurden. In einer Welt, in der politische Verwerfungen, geopolitische Interessen und diplomatische Rücksichten häufig dazu führen, dass rechtliche Klarheit ausbleibt, ist dieses Urteil ein monumentales Zeichen. Und ein juristischer Dammbruch. Denn erstmals wird nicht nur eine Regierung zur Verantwortung gezogen für eine Reihe individueller Menschenrechtsverletzungen, sondern ein gesamter staatlicher Gewaltapparat, der laut Urteil planvoll und systematisch gegen die Europäische Menschenrechtskonvention verstoßen hat. Die Ermordung von Gefangenen, die willkürliche Inhaftierung, die Abschiebung ukrainischer Kinder nach Russland, die gezielte Zerstörung ziviler Infrastruktur – all dies wurde vom Gericht in zahllosen Fällen als bewiesen festgestellt. Besondere Schwere und Symbolkraft erhält das Urteil durch die Einordnung des Falls MH17. Die Richter folgten in vollem Umfang den Feststellungen internationaler Ermittlungsbehörden und betonten, dass die eingesetzte Buk-Rakete aus einem Luftabwehrsystem der russischen Armee stammte – geliefert, bedient und wieder abgezogen unter direkter Aufsicht des russischen Militärs. Die Entscheidung der Grand Chamber nimmt damit Bezug auf jahrelange Ermittlungen unter der Leitung der niederländischen und australischen Behörden, die bereits 2022 zu Strafverurteilungen gegen drei Beteiligte führten – und ergänzt diese nun um eine staatsrechtliche Feststellung von geradezu historischer Wucht. Russlands Reaktion fiel erwartungsgemäß aus. Kreml-Sprecher Dmitri Peskow erklärte in Moskau, das Urteil sei „nichtig und unwirksam“ – eine Haltung, die Russland seit dem Ausschluss aus dem Europarat im Jahr 2022 regelmäßig einnimmt. Seitdem erkennt die Russische Föderation die Zuständigkeit des Straßburger Gerichts nicht mehr an. Doch das Urteil bezieht sich auf Handlungen, die vor dem 16. September 2022 begangen wurden – also in der Zeit, als Russland noch Mitglied des Europarats und damit Vertragsstaat der Europäischen Menschenrechtskonvention war. Juristisch ist die Entscheidung damit uneingeschränkt gültig – auch wenn ihre Umsetzung, etwa im Hinblick auf Schadensersatz oder individuelle Klagerechte, vor erheblichen politischen Hindernissen steht. Für die Angehörigen der Opfer von MH17 bedeutet das Urteil dennoch einen Meilenstein. „Nichts kann diesen Schmerz und das Leid nehmen, aber ich hoffe, das Urteil liefert ein Gefühl von Gerechtigkeit und Anerkennung“, erklärte der niederländische Außenminister Caspar Veldkamp in Den Haag. Auch das ukrainische Justizministerium sprach von einer „der wichtigsten Entscheidungen in der Geschichte der internationalen Staatenpraxis“. Denn das, was in Straßburg nun schwarz auf weiß steht, kann in kommenden Verfahren vor dem Internationalen Strafgerichtshof, vor Schiedsgerichten oder in diplomatischen Verhandlungen kaum noch ignoriert werden. Der EGMR hat angekündigt, in einem weiteren Schritt über individuelle Entschädigungen zu entscheiden – eine Maßnahme, die symbolisch zwar von enormer Bedeutung ist, praktisch aber an der fehlenden Kooperationsbereitschaft Russlands scheitern dürfte. Gleichwohl bereiten sowohl die Ukraine als auch Australien und die Niederlande weitere juristische Schritte vor: Neben Klagen vor internationalen Tribunalen stehen auch neue Haftbefehle gegen russische Militärs und Politiker im Raum, die möglicherweise in Zukunft auf europäischem Boden verhaftet werden könnten. Doch über den juristischen Gehalt hinaus ist dieses Urteil auch ein moralisches Dokument. Es zeigt, dass selbst in einer Welt wachsender Gewalt, der Entwertung internationaler Normen und der Erosion des Völkerrechts noch Orte bestehen, an denen Wahrheit festgestellt, Verantwortung benannt und Unrecht dokumentiert wird. Das Straßburger Urteil ist kein Ende der Geschichte – aber es ist ein Anfang. Ein Anfang der juristischen Aufarbeitung eines der schwersten Kriegsverbrechen unserer Zeit. Und vielleicht ein Anfang der Gerechtigkeit für die 298 Menschen, die am 17. Juli 2014 nie ihr Ziel erreichten. Wenn die Welt noch einen Beweis dafür brauchte, dass Recht auch gegen Macht bestehen kann – in diesen 501 Seiten ist er zu finden. Es begann mit einer Anklage – und endet mit einer kalten, unumstößlichen Wahrheit: Russland ist verantwortlich.








Zeit wird es.
Leider nur symbolisch.
Denn Russland interessiert sich nicht für Urteile des EUGh.
Sie interessieren sich auch nicht für Urteile des Internationalen Strafgerichtshofes.
Das ist das Problem bei diesen ganzen Despoten: sie lassen sich nicht von Gesetzen und Regeln beeindrucken.