Die doppelte Wahrheit des Matthew Allison – Ein DJ im Schatten des Terrorgram-Netzwerks

VonRainer Hofmann

April 22, 2025

Boise, Idaho. Eine Stadt wie aus einem Werbeprospekt für die Vergangenheit – altmodisch, sonnig, nachsichtig. Man kennt sich, man lächelt, man trinkt das gleiche billige Bier in denselben verrauchten Clubs, in denen die Zukunft klingt wie Drum’n’Bass aus den Neunzigern. Inmitten dieser Kulisse stand Matthew Allison an den Plattentellern, freundlich, sensibel, einer von denen, die lieber zuhören als reden. Er war homosexuell, hatte einen langjährigen Partner, lebte vegan, mied Honig aus ethischen Gründen – und war nachts einer der gefährlichsten digitalen Faschisten unserer Zeit.

Allison war nicht nur DJ und Bagelbäcker. Er war BTC – „BanThisChannel“ –, ein Name, der in den dunklen Ecken von Telegram ein Markenzeichen war. Was er dort erschuf, war keine Kunst, sondern die Digitalisierung des Terrors. Über 120 Videos, produziert mit Schnittgefühl, musikalisch unterlegt, oft in Schwarz-Weiß, zeigten Attentäter, beschrieben Methoden des Mordens, erklärten Schritt für Schritt den Bombenbau. Sie glorifizierten Brenton Tarrant, sprachen von heiligen Kriegern, zelebrierten die Ermordung von Juden, Schwarzen, Frauen, Transmenschen. Die zentrale Botschaft, immer wieder projiziert: “Voting will not remove them. They want you dead.”

Niemand hatte geahnt, dass der Mann, der sich am Samstagabend über Platten beugte und in seiner Freizeit Kabelradio hörte, nachts ein Netzwerk kuratierte, das über 20 Kanäle und 120 Gruppen umfasste – ein pulsierendes Ökosystem der Radikalisierung, das längst international wirkte. Seine Videos tauchten in Foren auf, auf Servern in Osteuropa, in Netzwerken, die Attentäter inspirierten. Der Täter von Bratislava hatte mit Allison Kontakt gehabt. Ein 18-jähriger aus New Jersey hatte mithilfe seiner Anleitungen ein Attentat auf ein Stromnetz vorbereitet. Allison war kein Randphänomen. Er war ein Knotenpunkt. Und niemand sah ihn kommen.

Als die Handschellen klickten, im September 2024, fanden Ermittler in seinem Rucksack Kabelbinder, Munition, ein Sturmgewehr und eine Totenschädel-Balaclava – das Erkennungszeichen der Atomwaffen Division. In seiner Wohnung lagerten Hitlists, Skizzen über Kindermord, Rape-Fantasien, Bombenbauanleitungen. Auf einem USB-Stick: der Tod in HD. Seine Verteidigung sprach von alten Death-Metal-Songtexten, von Kunst, von Provokation. Doch die Realität war längst konkreter. Zu konkret. Ermittler in drei Ländern sammelten Material, das Allison direkt mit über 30 Anschlagsversuchen in Verbindung brachte. Der Terror hatte ein Gesicht. Und es trug Kopfhörer.

Er war gebrochen, sagen Freunde. Ein Mensch, der in sich selbst einen Widerspruch trug, der tödlich wurde. Offen homosexuell, aber fanatisch in seinem Hass auf alles Queere. Ein ehemaliger Freund, Tyler Whitt, sagte später: „Er konnte nicht leben, was er war. Also hasste er. Es war wie ein Schwur gegen sich selbst.“ Sein Vater, ein alter Mann in Missouri, verstand nichts. „Er war mein perfekter Sohn. Ein Wunderkind. Ich weiß nicht, was passiert ist.“

Doch was mit Matthew Allison geschah, war keine Ausnahme. Es war eine Mutation. Eine Krankheit, die wächst, wenn niemand hinsieht. Das Netzwerk, das er mitprägte, nennt sich selbst nicht Terrorgram. Es ist kein Verein, kein Projekt. Es ist ein loser, dunkler Strom. Ein Gewirr aus Kanälen, Symbolen, Verweisen – alles kodiert, alles zugänglich. In Deutschland ist dieser Strom längst angekommen. Seit 2019 verbreiten Telegram-Kanäle wie „White Awakening“ oder „Feuersturm 88“ die Ästhetik des digitalen Faschismus. Sie loben Anders Breivik, sie feiern Waffen, sie erklären, wie man Sprengstoff herstellt. Sie rufen zum Krieg. Und sie meinen ihn.

In Mainz plante ein 20-jähriger Anschläge auf Moscheen. In Sachsen-Anhalt fand man bei einem Jugendlichen Kontakte zur Atomwaffen Division. Ein Bundeswehrreservist teilte Anschlagsanleitungen. Die Spuren führen – nicht gelegentlich, sondern wiederholt – in das politische Vorfeld der AfD. Marcel Grauf, der lange im baden-württembergischen Landtag für die Partei arbeitete, war in Gruppen aktiv, in denen Terrorgram-Inhalte kursierten. Der Landesverband Sachsen-Anhalt wurde 2024 im Verfassungsschutzbericht ausdrücklich wegen personeller Überschneidungen mit rechtsterror-affinen Gruppen erwähnt. Namen wurden nicht genannt, aber die Referenz war deutlich.

Mehrere Parteimitglieder teilen antisemitische Codes in privaten Chats, benutzen Sprache aus dem „Siege“-Umfeld, bedienen sich der Ästhetik von Atomwaffen Division und ONA. In Thüringen kursiert ein internes Papier, das den Begriff „Remigration“ mit „Freiwilligkeit“ und „Notwendigkeit“ kombiniert – Formulierungen, wie man sie zuvor nur in den Kanälen von Terrorgram fand. Der rechte Flügel der AfD, offiziell aufgelöst, lebt in digitalen Netzwerken weiter. Inzwischen verschwimmen die Trennlinien zwischen ultrarechtem Populismus und offenem Terrorismus. Das Bekenntnis zur Demokratie wird zur Kulisse. Dahinter wächst das Gift.

Auch „Blood & Honour“, die seit 2000 verbotene Neonazi-Organisation, ist längst wieder da – digitalisiert. Ihre Musik kursiert über Telegram, ihre Codes werden in Videos eingebettet, ihre Geschichte wird glorifiziert. Peter F., ein ehemaliges Mitglied von Combat 18, posiert mit Terrorgram-Symbolen, die Kamera filmt, Telegram lädt hoch, der Algorithmus verbreitet.

Besonders verstörend ist der Fall der sächsischen Separatisten. Unter dem Namen „Freistaat Weißer Osten“ formierte sich seit 2022 eine Gruppe, die die Sezession Sachsens und die Errichtung eines „arischen Staates“ plante. Sie veröffentlichten eine eigene Verfassung, glorifizierten NSDAP-Größen, sahen den Kollaps des Staates als historische Notwendigkeit. Jörg S., mutmaßlicher Anführer, traf sich mit dem österreichischen Neonazi Gottfried Küssel in Wien. Bei der Durchsuchung im November 2024 – in Deutschland, Polen, Österreich – fand man paramilitärische Ausrüstung, Pläne zur territorialen Eroberung und Verbindungen zu Sicherheitsbehörden. Acht Personen wurden festgenommen. Die Ermittlungen laufen noch.

Was all diese Gruppen eint, ist der Blick auf die Jugend. Sie sprechen die Sprache der Memes, nutzen Gaming-Plattformen, ködern über Ironie. Der Einstieg ist harmlos. Die Radikalisierung tödlich. Das Bundeskriminalamt spricht von stochastischem Terrorismus – also der Erzeugung eines Umfelds, in dem irgendwer, irgendwo, irgendwann zur Waffe greift.

Telegram löscht. Und lässt Neues entstehen. Die Plattform ist Teil des Problems. Der Fall Matthew Allison ist Symbol und Warnung. Ein Mensch, der Musik liebte und Hass verbreitete. Ein Künstler, der sich selbst zum Werkzeug des Terrors machte. Sein Fall wird vor Gericht verhandelt. Die Verteidigung beruft sich auf Meinungsfreiheit. Doch die Wirklichkeit fragt längst nicht mehr nach Kunst.

Sie fragt: Wie viele Bomben müssen noch explodieren, bis Worte als Taten gelten?

Fortsetzung folgt…

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