Es gibt Geschichten, bei denen selbst geübte Beobachter innehalten. Fälle, so grausam in ihrer Banalität, dass man fast meint, im falschen Film zu sein. Dieser hier ist einer davon. Und das sagt viel – denn wir haben in den letzten Monaten vieles gesehen: wir haben uns durch Gerichtsakten gewühlt, Deportationsflüge nach El Salvador verfolgt, Vorfälle in Guatemala dokumentiert, Dossiers über ICE-Razzien gelesen, in denen kein Richter mehr zu helfen wagte. Doch dieser Fall – leider nicht der einzigste Fall, ereignete sich in Deutschland.
Hayat A., 61 Jahre alt, schwer krank, lebte in Miltenberg, umgeben von ihren Söhnen. Sie hatte bereits Krebs, Asthma, einen Bandscheibenvorfall. Ende März kam die zweite Diagnose: Metastasen in der Leber, dringende Operation notwendig. Sechs Stunden später saß sie im Flugzeug. Abgeschoben – aus der Klinik. Nach Bulgarien. Nachts, unter Polizeischutz, ohne Abschied, ohne Perspektive. Deutschland, 2025.
Was muss passieren, damit ein Land den letzten Rest an Anstand verliert? Diese Frage stellt sich mit brutaler Klarheit, wenn man den Fall Hayat A. liest. Eine Frau, die kaum noch selbst zur Toilette gehen kann, wird unter Schmerzen aus ihrem Umfeld gerissen. Ihr Sohn, der sie begleiten will, wird von Polizeiwagen blockiert. Die Klinik, in der sie liegt, übergibt sie an die Beamten, als ginge es um eine Akte, nicht um einen Menschen. Es ist das Deutschland im Rechtstaatskostümen, im Abschieberaum zwischen Dublin-Verordnung und kaltem Populismus. Innenminister Joachim Herrmann spricht von „Vollzug“, das BAMF verweist auf „ausreichende medizinische Standards“ in Bulgarien. Und ein Verwaltungsgericht muss schließlich entscheiden, ob jemand sterben darf oder nicht.
Dieses Deutschland ist nicht nur müde geworden. Es wirkt berauscht. Von Ordnung, von Paragrafen, von vermeintlicher Pflichterfüllung. Man hat den Eindruck, dass Abschiebungen inzwischen wie Trophäen gefeiert werden. Wer noch atmet, ist noch transportfähig. Wer Schmerzen hat, braucht kein Asyl. Und wer krank ist, hat offenbar die beste Qualifikation, um in der Statistik zu verschwinden. Man hat den Eindruck, es macht inzwischen Spaß. Der Staat als Entfremdungsmaschine, als technokratische Verwaltung der Grausamkeit. Die Schwächsten der Gesellschaft werden greifbar, weil sie sich nicht wehren können. Und das ist kein Nebeneffekt, sondern Teil der Logik. Je sichtbarer das Leid, desto unbarmherziger der Zugriff. Je hilfloser die Person, desto entschlossener der Staat.
Was bleibt? Ein Rückflug nach Deutschland, gerichtlich angeordnet, nachdem das Verwaltungsgericht Würzburg gegen das BAMF entschied. Weil die medizinische Versorgung in Bulgarien für schwer Krebskranke eben nicht „ausreichend“ ist. Weil das, was geschehen ist, in einem Rechtsstaat nicht geschehen darf. Weil es Menschen gibt, die sich wehren. Und weil es Richter gibt, die noch hinsehen. Aber reicht das? Reicht ein einzelnes Urteil gegen die Logik einer Abschiebemaschinerie, die inzwischen auch in Krankenhäusern zugreift? Es wirkt wie ein Tropfen Gerechtigkeit in einem Meer von politischem Zynismus.
Der Fall Hayat A. ist kein Einzelfall mehr. Er ist Symbol. Für ein Land, das sich selbst verliert. Für eine Politik, die lieber Zahlen liefert als Verantwortung trägt. Für einen Rechtspopulismus, der nicht am Rand wuchert, sondern im Herzen angekommen ist.
Amerika hat seinen Trump. Deutschland hat seinen Rausch. Die Abschiebung fand bereits im März statt, wie passend.