Russland hat in der Nacht erneut das ukrainische Stromnetz attackiert – Teil einer seit Monaten systematisch geführten Kampagne, die darauf abzielt, die Energieinfrastruktur des Landes zu zerstören, bevor die Kälte kommt. Der Winter ist in der Ukraine nicht einfach eine Jahreszeit, er ist ein strategischer Faktor. Wer ihn kontrolliert, kontrolliert das Durchhaltevermögen eines Volkes. Und diesmal scheint der Kreml entschlossen, die Dunkelheit selbst zur Waffe zu machen. Nach Angaben von Mykola Kalashnyk, dem Gouverneur der Region Kiew, wurden zwei Mitarbeiter des Energiekonzerns DTEK bei einem Angriff auf eine Umspannstation verletzt. Auch in den Regionen Donezk, Odessa und Tschernihiw trafen Raketen und Drohnen kritische Energieanlagen. Das Energieministerium bestätigte weitreichende Schäden, von Stromausfällen bis zu Bränden, die ganze Viertel lahmlegten.

„Russland setzt seinen Luftterror gegen unsere Städte fort“, schrieb Präsident Wolodymyr Selenskyj auf X. Er bezifferte die Angriffe der letzten Woche auf über 3.100 Drohnen, 92 Raketen und mehr als 1.300 Gleitbomben. Die Zahlen lesen sich wie eine makabre Statistik der Ausdauer – ein Krieg der Beharrlichkeit, geführt auf den Schaltflächen des Alltags. Selenskyj forderte einmal mehr schärfere Sanktionen, diesmal nicht gegen Russland direkt, sondern gegen die Abnehmer seines Öls. „Sanktionen, Zölle und gemeinsame Maßnahmen gegen jene, die diesen Krieg finanzieren, müssen auf dem Tisch bleiben“, schrieb er. Besonders betonte er ein Telefonat mit US-Präsident Donald Trump, das er als „sehr produktiv“ bezeichnete. Besprochen wurden demnach die Stärkung der Luftverteidigung, die Resilienz des Landes – und die heikle Frage nach Langstreckenwaffen.

Denn genau hier liegt die eigentliche Bruchlinie der kommenden Wochen: die möglichen Lieferungen amerikanischer Tomahawk-Marschflugkörper an die Ukraine. Trump, seit Monaten hin- und hergerissen zwischen seiner demonstrativen Entschlossenheit und seiner Skepsis gegenüber „endlosen Kriegen“, sagte jüngst, er habe „eine Art Entscheidung“ getroffen – ohne zu präzisieren, welche. Selenskyj wiederum gab sich im Interview mit Fox News diplomatisch. Auf die Frage, ob Trump die Lieferung genehmigt habe, antwortete er: „Wir arbeiten daran. Natürlich hoffen wir auf solche Entscheidungen, aber wir werden sehen.“ Zwischen den Zeilen klang klar: Die Ukraine zählt darauf, dass der Präsident den symbolischen Schritt wagt – den Sprung über eine rote Linie, die Russland schon jetzt in Alarmbereitschaft versetzt hat.
Kremlsprecher Dmitri Peskow sprach von „extremer Besorgnis“ und warnte, die Lage sei „dramatisch angespannt“. In Moskau fürchtet man weniger die Waffe selbst als das, was sie bedeutet: die Rückkehr der Vereinigten Staaten als aktiver Akteur in einem Krieg, den Trump ursprünglich „beenden“ wollte. Die Vorstellung, dass amerikanische Tomahawks russisches Territorium erreichen könnten, ist im Kreml mehr als ein Alptraum – sie ist ein politischer Schock. Auch Alexander Lukaschenko, der belarussische Machthaber und Putins treuester Verbündeter, bemühte sich, die Wogen zu glätten. In einem Interview mit dem Kreml-nahen Reporter Pawel Sarubin sagte er, er glaube nicht, dass die USA Tomahawks liefern werden. „Unser Freund Donald … manchmal geht er forsch vor, und dann lässt er wieder locker. Wir sollten das nicht so verstehen, als würde morgen etwas fliegen.“ Es war der Versuch, Trumps Unberechenbarkeit als strategische Kunstform zu deuten.

Der stellvertretende Vorsitzende des Verteidigungsausschusses der russischen Staatsduma, Aleksei Zhuravlev, erklärte, Russland könne Vergeltungsangriffe auf amerikanische Städte starten, falls Kiew US-gelieferte Tomahawk-Raketen einsetze.
„Mit all den sich daraus ergebenden Konsequenzen, einschließlich eines möglichen Gegenschlags gegen amerikanische Städte … Glauben Sie mir, wir haben die Mittel dafür.“ („Со всеми вытекающими последствиями, включая и возможный ответный огонь по американским городам … Поверьте, возможности для этого у нас есть.“ )
Ob diese Drohungen realistisch sind oder in politische Handlungen umgesetzt werden, ist eine andere Frage, auf die bislang keine belastbaren Beweise bekannt sind. Zhuravlev sprach aus der Perspektive eines Abgeordneten, nicht einer offiziellen Stellungsnahme der russischen Regierung. Nichts übertrifft den Charme eines gestörten Realismus.
Hinter den Schlagzeilen aber bleibt die Realität brutal einfach: Russland führt einen Krieg gegen die elementarsten Bedürfnisse eines Volkes. Seit drei Jahren sind die Stromwerke, Heizkraftwerke und Umspannstationen des Landes zu Zielen einer Militärstrategie geworden, die moralisch wie völkerrechtlich kaum noch verhüllt, was sie ist – ein Angriff auf das Überleben der Zivilbevölkerung. Premierministerin Julija Swyrydenko bezeichnete die jüngsten Attacken als „eine der größten konzentrierten Wellen gegen unsere Energieinfrastruktur“. Mindestens 20 Menschen wurden bei den Angriffen am Freitag in Kiew verletzt, Wohnhäuser beschädigt, ganze Stadtteile verdunkelt. In manchen Vierteln loderten Feuer in der Nacht, während Notstromgeneratoren das letzte Licht spendeten.
Jeden Herbst wiederholt sich dieses Muster. Schon 2022 versuchte Moskau, die Ukraine durch gezielte Stromausfälle in Verzweiflung zu treiben, in der Hoffnung, dass Frost und Erschöpfung das Land von innen brechen. Doch auch jetzt, im vierten Kriegswinter, bleibt der Wille zum Widerstand ungebrochen.

Die ukrainische Luftwaffe meldete, in der Nacht 103 von 118 russischen Drohnen abgefangen oder elektronisch gestört zu haben. Gleichzeitig behauptete das russische Verteidigungsministerium, 32 ukrainische Drohnen über eigenem Gebiet abgeschossen zu haben – ein Ritual der Propaganda, das den gegenseitigen Verschleiß verdeckt. Während Kiew in der Dunkelheit arbeitet, um die Energieversorgung aufrechtzuerhalten, ringt Washington mit der eigenen Rolle. Trump weiß, dass die Entscheidung über die Tomahawks mehr ist als eine militärische Geste. Sie ist ein Signal an Moskau – und an die Welt –, ob Amerika bereit ist, erneut die Bürde der Abschreckung zu tragen.

Europa steht in diesen Tagen wie ein Zuschauer im eigenen Drama. Man hält Reden über Solidarität, verfasst Resolutionen mit wohlklingenden Worten – und wirkt doch, als wolle man die eigene Stimme nicht hören. Während in der Ukraine ganze Städte ohne Strom liegen, sitzen in Brüssel und Berlin Beamte über Paragrafen, Haushaltslinien und „Machbarkeitsstudien“. Die Sprache ist technokratisch, die Realität tödlich. Es ist die vielleicht größte moralische Bankrotterklärung des Kontinents seit Jahrzehnten: ein politisches System, das den Unterschied zwischen Verantwortung und Verwaltung vergessen hat.
Russland führt längst einen Krieg gegen die Infrastruktur des Lebens, Europa dagegen führt Sitzungen. Diplomaten sprechen intern von einem selbstzufriedenen Zustand, einer politischen Trägheit, die sich als Vernunft tarnt. Europa, sagen sie, unfähig über sich hinauszuwachsen.
In der Zwischenzeit kämpft die Ukraine weiter: um Strom, um Wärme, um die Erinnerung daran, dass Zivilisation mehr bedeutet als bloß Licht in der Nacht. Der Krieg um das Stromnetz ist längst zu einem Krieg um die Seele des Landes geworden – geführt in Kilowatt, aber gezählt in Leben.
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