Der Staub des Fortschritts – Wie Nanoplastik die Ozeane durchdringt und in Deutschland Messkampagnen für die Nord- und Ostsee Fehlanzeige sind

VonRainer Hofmann

Juli 14, 2025

Es beginnt mit einem Schleier, unsichtbar und allgegenwärtig. Ein Schleier, den kein Satellit erfasst, den keine Kamera zeigt – und der doch Millionen Tonnen wiegt. Nanoplastik, winzige Fragmente synthetischer Materialien, kleiner als ein Bakterium, leichter als eine Feder, aber schwerer als die Sorge, die sie auslösen. Eine neue Studie, veröffentlicht in der Fachzeitschrift Nature, beziffert die Menge solcher Partikel allein in den nördlichen Atlantikgewässern auf mindestens 27 Millionen Tonnen. Mehr als das Gewicht aller wildlebenden Landsäugetiere zusammen. Es ist ein Befund, der nicht nur überrascht, sondern verstört. Denn was man nicht sieht, ist längst Teil unserer Realität – und unseres Körpers. Plastik im Meer ist kein neues Thema. Bilder von Schildkröten mit Strohhälmen in der Nase und gestrandeten Walen mit Plastiktüten im Magen haben sich tief ins kollektive Gedächtnis eingebrannt. Doch Nanoplastik entzieht sich der visuellen Empörung. Diese Partikel sind so klein, dass sie durch Zellwände dringen können – und es offenbar längst tun. In menschlichen Plazenten wurden sie gefunden, in Gehirnzellen, im Atem von Delfinen. Nun zeigt sich, dass auch die Ozeane – von Europas Küsten bis in 4.500 Meter Tiefe – voll davon sind. Eine Doktorandin der Universität Stockholm, Sophie ten Hietbrink, verbrachte vier Wochen auf einem Forschungsschiff, um Proben aus den unterschiedlichsten Regionen des Atlantiks zu sammeln. Was sie und ihr Team fanden, ist nichts weniger als der fehlende Teil einer globalen Erzählung: die Unsichtbarkeit des ökologischen Desasters. Die Methode war ebenso präzise wie beunruhigend. Die Wasserproben wurden verdampft, zurück blieb eine salzige Kruste. Diese wurde erhitzt, und bei höheren Temperaturen verbrannten die Plastikrückstände – nicht ohne ihre chemischen Signaturen zu hinterlassen. Mithilfe modernster Massenspektrometrie konnte das Forscherteam die spezifischen Moleküle identifizieren, die typisch sind für Polyethylen, Polypropylen und andere Kunststoffe des Alltags. Es ist eine stille Bilanz menschlicher Gewohnheiten – abgelegt im Ozean wie eine unsichtbare Sedimentschicht unserer Zeit.Was diese Studie von früheren Forschungen unterscheidet, ist nicht nur die Genauigkeit der Messung, sondern auch die Dimension der Erkenntnis. „Wir haben Nanoplastik schon lange vermutet, aber nie gewusst, wie viel es wirklich ist“, sagt der Umwelttechnik-Professor Tengfei Luo von der Universität Notre Dame. Er war nicht an der aktuellen Untersuchung beteiligt, hatte aber im Vorjahr erstmals Nanoplastik sichtbar gemacht – unter dem Mikroskop. Nun ist klar: Es ist nicht nur da, es ist überall.

Nanoplastik ist deutlich kleiner als gewöhnliches Mikroplastik und lässt sich daher kaum herausfiltern oder abbauen. Aufgrund seiner winzigen Größe kann es tief in Umweltkreisläufe und lebende Organismen eindringen.


Die durchschnittliche Konzentration in küstennahen Gewässern liegt bei etwa 25 Milligramm pro Kubikmeter – das klingt wenig, ist aber in Wahrheit enorm. Es entspricht dem Gewicht einer Vogelfeder in einem Würfel aus Wasser von einem Meter Kantenlänge. Doch diese Zahl steht nicht für einen harmlosen Befund, sondern für ein strukturelles Problem: Nanoplastik ist zu klein, um herausgefiltert zu werden, zu leicht, um sich abzusenken, zu allgegenwärtig, um ignoriert zu werden. Es bleibt in Bewegung, wandert durch die Nahrungskette, reichert sich an, verändert Ökosysteme, Organismen – vielleicht sogar unser Denken. In Genf wird sich im August eine große Konferenz der Vereinten Nationen versammeln, um über ein globales Abkommen zur Plastikvermeidung zu verhandeln. Über 100 Staaten werden teilnehmen, und es wird um das große Ganze gehen: Vermeidung, Wiederverwertung, Entsorgung. Doch was lässt sich vermeiden, wenn das Problem längst Teil des Stoffwechsels geworden ist? Wenn sich jedes Stück Kunststoff früher oder später in einen unsichtbaren Teil unserer Umwelt verwandelt?

Ocean Cleanup


Dusan Materic, Mitautor der Studie und Leiter einer Forschungsgruppe am Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung, bringt es auf den Punkt: „Das ist das fehlende Kapitel in der Geschichte des Plastiks. Und wir beginnen gerade erst, es zu schreiben.“ Es ist ein Kapitel ohne Happy End – zumindest solange der Materialverbrauch nicht sinkt, solange Recyclingquoten stagnieren und Plastik billiger bleibt als seine Alternativen. Niemand glaubt ernsthaft, dass die Menschheit kurzfristig auf Kunststoff verzichten kann. Doch es geht um etwas anderes: um Bewusstsein, um Verantwortung, um das Wissen, dass jeder Kaffeebecher, jede PET-Flasche, jedes Kunststoffnetz nicht einfach „verschwindet“. Sondern dass es bleibt – als unsichtbarer Schatten unter der Oberfläche. In dieser Erkenntnis liegt keine Panik, sondern eine Verpflichtung. Die Weltmeere sind nicht mehr nur Spiegel des Klimas – sie sind Speicher unseres Lebensstils. Und das, was sich nun in ihren Tiefen zeigt, ist nicht bloß eine ökologische Warnung. Es ist ein Spiegelbild unserer Zeit.


Unsere Recherchen offenbaren dabei ein beunruhigendes Muster: Während internationale Studien inzwischen präzise Daten über die Ausbreitung von Nanoplastik im Atlantik liefern, bleibt die Forschungslage in Deutschland und Europa vielerorts lückenhaft. Die Nord- und Ostsee, seit Jahrzehnten durch Schifffahrt, Industrie und Tourismus intensiv genutzt, gelten als besonders gefährdet – und doch findet die Frage nach unsichtbaren Plastikpartikeln in Politik und Öffentlichkeit kaum Beachtung. Das Alfred-Wegener-Institut warnte bereits 2017 vor möglichen Nanoplastik-Rückständen in Sedimenten der Nordsee, vor allem nahe der Elbmündung und entlang der Küste. Flüsse wie Elbe, Weser und Rhein transportieren täglich tonnenweise Mikropartikel aus Städten und Kläranlagen in die offenen Gewässer – mit kaum abschätzbaren Folgen für Fische, Muscheln, Plankton. In der Ostsee wiederum, deren Wasseraustausch durch ihre geographische Enge stark begrenzt ist, haben schwedische Wissenschaftler:innen inzwischen Nanoplastik im Zooplankton nachgewiesen. Auch deutsche Küstenregionen – etwa um Kiel oder Greifswald – gelten als belastet, etwa durch Abrieb von Reifen, Fasern aus Kleidung oder Rückstände von Kosmetika. Doch konkrete Messkampagnen? Fehlanzeige. Politisches Problembewusstsein? Kaum vorhanden. Während sich internationale Expert:innen auf den Weg machen, das wahre Ausmaß der Partikelbelastung zu kartieren, verharrt die öffentliche Debatte in Deutschland noch immer im Stadium der Ahnung. Dabei zeigen die ersten Befunde längst: Es geht nicht mehr um einzelne Plastikinseln. Es geht um ein flüssiges Archiv menschlicher Nachlässigkeit – das sich längst durch jede Welle frisst.

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Ela Gatto
Ela Gatto
2 Monate zuvor

Um das Nanoplastik aus der Umwelt, aus den Organismen zu bekommen, braucht es wohl sehr intensive Forschung.

Bis da etwas gefunden wird, hilft nur Reduktion, Recycling und verantwortungsvoller Umgang.

Leider sehen das sehr viele Länder anders.

Laura Kirchner
Laura Kirchner
2 Monate zuvor

Die aus dem Nanoplastik entstehenden Gefahren sind noch absolut unkalkulierbar und da wird noch einiges sehr Unschönes auf uns zukommen.In Anbetracht dessen, dass bei Autopsien an dementiell Erkrankten herauskam, dass die Nanopartikel die Blut-Hirnschranke überwinden und sie sich massenhaft im Gehirn, in der Leber und den Nieren anreichern, können wir davon ausgehen, dass sie zukünftig ganz neue Erkrankungen auslösen.
Und das Bittere ist, dass diese Erkrankungen hätten vermieden werden können…doch wie so oft waren Gier, aber auch Bequemlichkeit wichtiger…
Wie beim Klimawandel laufen wir sehenden Auges in die Katastrophe und politische Konsequenzen? Fehlanzeige…
Allerdings fängt der Wandel hier auch beim Verbraucher an und jeder Einzelne ist gefragt sein Konsumverhalten zu überdenken…

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