Der Screenshot, der alles zerstörte

VonRainer Hofmann

September 30, 2025

Suzanne Swierc war Direktorin für Gesundheitsförderung und Advocacy an der Ball State University in Muncie, Indiana, als sie auf ihrem privaten Facebook-Account einen Satz schrieb, der ihr Leben zerstören sollte: „Wenn du Charlie Kirk für einen wundervollen Menschen hältst, können wir keine Freunde sein.“ Der Post war auf ihre Freunde beschränkt, eine private Äußerung in einem vermeintlich geschützten Raum.

Doch im digitalen Zeitalter gibt es keine geschützten Räume mehr. Ein Screenshot genügte. Innerhalb von Stunden hatte ein bekannter rechter Amplifier-Account den Auszug geteilt, und die Nachricht raste durch das Internet wie ein Lauffeuer. Die Plattformen registrierten 6,9 Millionen Views. Was als private Meinungsäußerung begann, wurde zur öffentlichen Hinrichtung. Elon Musk kommentierte. Rudy Giuliani stimmte ein. Selbst Indianas Generalstaatsanwalt meldete sich zu Wort und bezeichnete Swiercs Äußerung als abscheulich, als ungeeignet für eine Führungsperson.

Die Ball State University reagierte mit der Geschwindigkeit einer Institution in Panik: sofortige Kündigung. Fünf Tage nach dem Post war Swierc arbeitslos.

Was hier geschah, war kein Zufall, kein bedauerlicher Einzelfall. Es war das Produkt einer perfekt geölten Maschinerie, die Indiana in den vergangenen Jahren aufgebaut hat. Das Portal „Eyes on Education“ ist das sichtbarste Symbol dieser neuen Ordnung. Ursprünglich als Feedback-Kanal für besorgte Eltern gedacht, die sich über Lehrmaterialien beschweren wollten, hat es sich in etwas viel Dunkleres verwandelt: eine Denunziationsplattform, auf der Bürger – anonym oder mit Namen – vermeintlich problematische Äußerungen von Lehrkräften und Universitätspersonal melden können. Hier landen Namen, Social-Media-Posts, Arbeitgeberkontakte. Die Ball State University betreibt zusätzlich ihr eigenes System: EthicsPoint. Die Kombination aus viraler Verbreitung und staatlich abgesegneten Meldewegen schafft ein Klima, in dem jeder zum potentiellen Ziel wird, jede Äußerung zur Waffe gegen einen selbst.

Die Zahlen sprechen eine deutliche Sprache: Mehr als 145 Menschen haben landesweit ihre Jobs verloren, weil sie posthum Kritik an Charlie Kirk geäußert oder dessen Anhänger kritisiert hatten. Aber Zahlen erzählen nur die halbe Wahrheit. Sie erfassen nicht die Fakultätsmitglieder, die hinter vorgehaltener Hand flüstern, aus Angst, das nächste Opfer zu sein. Sie zeigen nicht die Petitionen, die nicht unterschrieben werden aus Furcht vor Doxxing. Sie dokumentieren nicht die Selbstzensur, die sich wie ein unsichtbares Gift durch die Universitäten frisst. Ein Professor der Ball State beschreibt es so: Die Gelegenheit, First Amendment-Werte zu verteidigen und Studierende über freie Rede zu unterrichten, werde verpasst – aus Furcht, selbst in die Schusslinie zu geraten.

Der juristische Kampf

Ball State ist eine öffentliche Universität. Theoretisch sollte hier der First Amendment-Schutz greifen, jener verfassungsmäßige Schutz der freien Rede vor staatlicher Repression. Doch die Realität ist komplizierter. Indianas „at-will“-Beschäftigungsregeln erlauben Kündigungen ohne Angabe von Gründen. Lokale Gesetze, politischer Druck und die Angst vor öffentlicher Empörung schaffen eine Grauzone, in der verfassungsmäßige Rechte zur Verhandlungsmasse werden. Die American Civil Liberties Union hat für Swierc Klage eingereicht. Sie argumentieren, dass die Kündigung ihre verfassungsmäßigen Rechte verletzt. Der Ausgang dieses Verfahrens wird richtungsweisend sein – nicht nur für Swierc, nicht nur für Universitätspersonal, sondern für alle Beschäftigten öffentlicher Institutionen. Es geht um die Frage, ob der Staat seine eigenen Bürger vor den Mechanismen schützt, die er selbst geschaffen hat, oder ob er sie diesen Mechanismen ausliefert.

Bei einer Gedenkveranstaltung für Kirk auf dem Campus zeigte sich die Zerrissenheit der Gemeinschaft. Studierende, Fakultät und Anwohner kamen zusammen, aber statt Einheit herrschte Spaltung. Einige forderten eine klare Verurteilung politischer Gewalt, andere sahen in Swiercs Entlassung eine notwendige Maßnahme. Zwischen beiden Lagern aber lag etwas Größeres, Unausgesprochenes: die Angst. Die Angst, das Falsche zu sagen. Die Angst, der Nächste zu sein.

Die neue Normalität

Was wir hier beobachten, ist mehr als ein Kulturkampf zwischen politischen Lagern. Es ist die Entstehung einer neuen Normalität, in der private Äußerungen zu öffentlichen Waffen werden, in der Screenshots zu Karrierekillern mutieren, in der staatliche Strukturen und digitale Lynchmobs Hand in Hand arbeiten. Die Mechanik ist immer dieselbe: Eine Äußerung wird aus ihrem Kontext gerissen, von reichweitenstarken Accounts verstärkt, Follower werden mobilisiert, Institutionen knicken unter dem Druck ein.

Suzanne Swierc ist sehr geschätzt und beliebt bei den Kollegen, Studentinnen und Studenten

Die Ironie dabei ist bitter. Konservative Akteure, die sich als Verteidiger der Meinungsfreiheit inszenieren, fordern nun offen, dass Gegnern „der Job genommen werden“ müsse. Sie nutzen genau jene „Cancel Culture“, die sie angeblich bekämpfen, perfektionieren sie sogar durch die Verschränkung mit staatlichen Meldeinstrumenten. Was als Vergeltung inszeniert wird, ist in Wahrheit die Etablierung eines Systems, das jeden treffen kann, der zur falschen Zeit das Falsche sagt – oder auch nur denkt.

Die Universitäten, einst Bastionen des freien Denkens und des offenen Diskurses, verwandeln sich in Orte der Angst. Professoren begleiten sich gegenseitig zu Personalgesprächen wie in einem Schutzbündnis. Abteilungsleiter in prekären Positionen schweigen lieber, als ihre Meinung zu äußern. Die Selbstzensur greift um sich wie eine ansteckende Krankheit. Was können wir dieser Entwicklung entgegensetzen? Juristische Klagen allein werden nicht reichen. Notwendig ist ein gesellschaftlicher Aufschrei, der klarmacht: Eine Demokratie, die ihre Bürger für private Meinungsäußerungen vernichtet, hat aufgehört, eine Demokratie zu sein. Universitäten müssen wieder zu Orten werden, an denen Dissens nicht als Kündigungsgrund gilt, sondern als notwendiger Teil des akademischen Diskurses. Führungspersonen dürfen nicht reflexhaft vor dem digitalen Mob kapitulieren. Und die Öffentlichkeit muss die Mechaniken durchschauen, die hier am Werk sind.

Der Fall Suzanne Swierc ist ein Alarmzeichen. Er zeigt, wie schnell öffentliche Institutionen und private Plattformen sich zu einer Maschinerie verzahnen können, die individuelle Existenzen zerstört – schnell, öffentlich, final. Wenn wir nicht dagegenhalten, werden mehr Lebensläufe zerrieben, mehr Karrieren vernichtet, mehr Menschen zum Schweigen gebracht. Die Frage ist nicht, ob wir uns wehren sollten, sondern ob wir noch die Kraft dazu haben, bevor die Angst uns alle erfasst hat. Denn die Demokratie stirbt nicht mit einem großen Knall. Sie stirbt mit einem Screenshot, einem Meldeformular, einer feigen Kündigung nach der anderen, bis niemand mehr wagt zu sprechen.

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Ela Gatto
Ela Gatto
2 Stunden zuvor

Unglaublich!
Einer ihrer sogenannten Freunde hat sie also denunziert. Den Screenshot gemacht und weiter geleitet.

Sie wird vermutlich nie erfahren, wer es wahr.
So wächst das Misstrauen. Wie im 3. Reich, wie in der DDR.
Die Angst sich frei zu äußern. sich frei zu äußern, außerhalb des Jobs, außerhalb öffentlich einsehbarer Postings.
1. Amendment scheint nicht mal das Papier wert zu sein auf dem es steht. Zumindest nicht für Kritiker.

Aber die Republikaner inszenieren sich als Verfechter der freien Meinungsäußerung.

Ich wünsche Ihr Erfolg bei der Klage.
Sehe aber schwarz, da Indiana tief rot ist.

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