Der Junge, der alles hatte und trotzdem seine Zukunft verlor – Eine investigative Aufarbeitung

VonRainer Hofmann

September 13, 2025

Eine amerikanische Tragödie in drei Akten

10. September 2025, 11:52 Uhr, Orem, Utah

Der graue Dodge Challenger parkt zwischen den anderen Studentenautos, unauffällig, gewöhnlich. Tyler James Robinson, 22 Jahre alt, steigt aus. In seinem Rucksack trägt er nicht nur eine Waffe, sondern auch die Last einer Radikalisierung, die seine Familie nie kommen sah. Auf den Patronenhülsen, die später gefunden werden, hat er Botschaften graviert: „Hey Faschist! Fang!“ steht auf einer. „Notices bulges OwO what’s this?“ – ein absurder Internet-Meme – auf einer anderen. Auf einer dritten die Zeilen aus „Bella Ciao“, dem antifaschistischen Partisanenlied aus dem Zweiten Weltkrieg. „If you read this, you are gay lmao“ auf einer vierten – Internethumor vermischt mit tödlicher Absicht.

Dies ist die Geschichte eines jungen Mannes, der im 99. Perzentil bei standardisierten Tests abschnitt, der ein Präsidentenstipendium von 32.000 Dollar erhielt, dessen Mutter vor Stolz platzte, als er mit perfekten Noten die Mittelschule abschloss. Dies ist auch die Geschichte eines Landes, das zusieht, wie seine hellsten Köpfe in den dunkelsten Ecken des Internets verloren gehen.

Das perfekte amerikanische Leben, oder war alles nur …

Die Robinsons verkörperten den amerikanischen Traum. Matt und Amber Robinson, seit 25 Jahren verheiratet, führten ein erfolgreiches Granit-Arbeitsplatten-Geschäft in Washington, Utah. Ihr Haus mit sechs Schlafzimmern in den Vororten, geschätzt auf 634.400 Dollar, war Zeugnis ihres Erfolgs. Amber arbeitete nebenbei für Intermountain Support Coordination Services, half Menschen mit Behinderungen. Beide registrierte Republikaner, beide mit aktiven Jagdlizenzen.

Die Facebook-Posts von Amber Robinson zeichnen das Bild einer typisch konservativen MAGA-Familie, die das Leben in vollen Zügen genoss: Disneyland, Hawaii, die Karibik, Alaska. Sie gingen Bootfahren, Angeln, fuhren ATVs, machten Ziplining und gingen zum Schießstand. Ein Foto von 2017 zeigt die Familie bei einem Militärbesuch, Tyler lächelt breit, während er die Griffe eines Kaliber .50 Maschinengewehrs umfasst.

„Mein Gehirn schmerzt für ihn, aber er ist so aufgeregt!“, schrieb Amber im August 2020, als Tyler sein letztes Highschool-Jahr begann. Vier College-Level-Kurse plus Advanced Placement Calculus. Der Junge war brillant.

Der Moment des Triumphs

Das Video, das Amber 2021 postete, zeigt einen schüchternen, aber strahlenden Tyler, der einen Brief liest: „Sehr geehrter Mr. Robinson, wir freuen uns, Ihnen mitteilen zu können, dass Sie ein Presidential Scholarship an der Utah State University erhalten haben…“ 32.000 Dollar. Für einen Jungen aus St. George war das der goldene Ticket.

„Es war großartig, etwas Zeit allein mit diesem Jungen zu verbringen“, schrieb Amber über einen Besuch mit Tyler an der Universität. „Plus Aggie-Eiscreme! Ich wusste nicht, dass es das gibt, aber es ist großartig!“

Doch nach nur einem Semester war alles vorbei. Tyler brach ab. Niemand in der Familie schien zu verstehen, warum. Der Junge, von dem Jaida Funk, eine ehemalige Nachbarin und ehemalige Mitschülerin, sagte: „Ich dachte, er würde CEO oder Geschäftsmann werden. Er hatte gute Führungsqualitäten“ – dieser Junge war jetzt in einer Elektriker-Ausbildung am Dixie Technical College.

Die unsichtbare Verwandlung

„Er war bekannt dafür, intelligent zu sein, aber nicht unbedingt ein Nerd“, erinnert sich Funk. „Er ist die Art von Kind, die man selbst wenn man nicht befreundet ist, in seiner Projektgruppe haben möchte. Jemand, von dem man erwartet, dass er die Auszeichnung für perfekte Anwesenheit bekommt.“

Aber etwas hatte sich verändert. Keaton Brooksby erinnert sich an einen Moment in der Highschool, als das Thema Benghazi aufkam. Während andere Schüler ahnungslos waren, hielt Robinson einen detaillierten Vortrag. „Ich dachte nur, er hat viel Information darüber für jemanden, der 14 ist.“

Keaton Brooksby

Die Verwandlung beschleunigte sich nach dem Universitätsabbruch. „Er wurde in den letzten Jahren politischer“, würde seine Familie später den Behörden berichten. Aber politisch in welche Richtung? Tyler war als Wähler registriert, aber ohne Parteizugehörigkeit. Er hatte nie gewählt – weder 2022 noch 2024. In einem Land, das sich in Rot und Blau teilt, war Tyler Robinson in einem gefährlichen Grau gefangen. Ein ehemaliger Schulfreund anonym; „Robinson sei das einzige linksliberale Familienmitglied gewesen und habe häufig politische Diskussionen geführt.“

Hier lebte Tyler Robinson aktuell in St. George – Die Stadt liegt im äußersten Südwesten von Utah, nahe der Grenze zu Arizona und Nevada. Es ist die größte Stadt im Süden Utahs und bekannt als Tor zum Zion-Nationalpark.

Seine Nachbarn im Apartmentkomplex in St. George sahen ihn kaum. Josh Kemp, 18, lebte gegenüber: „Er sprach nie mit jemandem. Er und sein Mitbewohner spielten immer laute Musik.“ Der elfjährige Oliver Holt, der von Tür zu Tür ging und nach kleinen Jobs fragte, um für ein neues Telefon zu sparen, erinnert sich an eine verstörende Begegnung: „Er verhielt sich ziemlich seltsam. Er wirkte nervös und ängstlich.“

Das Abendessen, das alles veränderte

September 2025. Die Familie Robinson sitzt beim Abendessen. Tyler erwähnt, dass Charlie Kirk an die Utah Valley University kommt – 3,5 Stunden Fahrt von ihrem Zuhause entfernt. Die Unterhaltung wendet sich zu Kirk selbst. „Warum mögen wir ihn nicht?“, fragt jemand. Sie diskutieren über Kirks Ansichten. Ein Familienmitglied sagt, Kirk sei „voller Hass und verbreite Hass.“ Was die Familie nicht wusste: Tyler war bereits tief in Online-Räume eingetaucht, wo Charlie Kirk nicht nur als politischer Gegner, sondern als Verkörperung des Faschismus dargestellt wurde. Auf Discord tauschte er Nachrichten über den Erwerb einer Waffe aus. Die Gravuren auf den Patronen – eine Mischung aus Netzkultur-Witzen antifaschistischen Slogans und trollendem Humor – zeugten von einer Weltanschauung, die sich aus den toxischsten Ecken des Internets nährte.

Charlie Kirk: Das polarisierende Ziel

Charlie Kirk war kein gewöhnlicher extremer konservativer Aktivist. Als CEO und Mitgründer von Turning Point USA hatte er eine Organisation aufgebaut, die auf College-Campussen für kontroverse rechte Positionen warb. Die Liste seiner öffentlichen Äußerungen liest sich wie ein Kompendium des Hasses. Kirk forderte, homosexuelle Menschen sollten „zu Tode gesteinigt“ werden. Er behauptete, die meisten Menschen hätten Angst, wenn sie einen schwarzen Piloten im Cockpit sähen. Taylor Swift, so seine Meinung, solle den Feminismus ablehnen und sich ihrem zukünftigen Ehemann unterwerfen. Niemand sollte in Rente gehen dürfen. Linke sollten nicht in republikanische Bundesstaaten ziehen dürfen. Der britische Kolonialismus sei es gewesen, was „die Welt anständig gemacht“ habe.

Der Mann, der Paul Pelosi angegriffen hatte, sollte seiner Meinung nach auf Kaution freikommen. Religionsfreiheit gehöre abgeschafft. Mehrere schwarze Politiker hätten „den Weißen ihre Plätze gestohlen“. Martin Luther King Jr. sei „eine schreckliche Person“ gewesen. Die rassistische Verschwörungstheorie vom „Großen Austausch“ sei Realität. Hydroxychloroquin heile COVID-19. Impfvorschriften seien „medizinische Apartheid“. Tote durch Schusswaffen seien akzeptabel, um den zweiten Verfassungszusatz zu erhalten.

Frauen gehörten von Natur aus unter die Kontrolle ihrer Ehemänner. Eltern sollten ihre Töchter daran hindern, Verhütungsmittel zu nehmen. George Floyd habe seinen Tod verdient, während die Kapitolstürmer vom 6. Januar unschuldig seien. Der Civil Rights Act von 1964 sei ein „riesiger Fehler“ gewesen. Er ermutigte Eltern, gegen Maskenpflichten zu protestieren. Der Wahlsieg eines Muslims in New York sei eine Tragödie, weil Muslime den 11. September verübt hätten. Muslime kämen überhaupt nur nach Amerika, um die westliche Zivilisation zu destabilisieren. Palästina „existiere nicht“ und jene, die es unterstützten, seien wie der KKK.

Diese Litanei des Hasses war nicht etwa das Produkt privater Gespräche oder geleakter Aufnahmen. Kirk verkündete diese Ansichten stolz und öffentlich, vor Millionen von Followern, auf Universitätscampussen im ganzen Land. Er machte aus Menschenverachtung ein Geschäftsmodell, aus Spaltung eine Karriere.

Die Online-Petition gegen seinen Auftritt an der Utah Valley University hatte bereits am 29. August begonnen. „Verhindert Charlie Kirk daran, an der UVU zu sprechen“, lautete der Titel. Die Universität verteidigte die Redefreiheit. Aber in den dunklen Ecken des Internets, wo Tyler Robinson seine Zeit verbrachte, wurde Kirk als etwas viel Gefährlicheres dargestellt.

Siehe auch unseren Artikel unter: https://kaizen-blog.org/das-gespaltene-amerika-charlie-kirks-tod-politische-gewalt-und-die-spur-zum-taeter-eine-investigative-recherche/

Der Tag der Entscheidung

10. September, 12:00 Uhr

3.000 Menschen haben sich im Fountain Courtyard versammelt. Kirk sitzt unter einem weißen Zelt, die Slogans „The American Comeback“ und „Prove Me Wrong“ prangen darauf. Er hält ein Handmikrofon, verschenkt MAGA-Mützen, bereit für die Debatte.

130 Meter entfernt klettert Tyler Robinson auf das Dach des Losee Centers. Die Überwachungskameras zeichnen alles auf: methodisch, zielgerichtet, wie jemand, der genau weiß, was er tut. „Er war kein Amateur“, würde später ein Experte sagen. „Er wusste, was er tat.“

12:20 Uhr

Ein einzelner Schuss. Kirk greift an seinen Hals. Blut strömt aus der linken Seite. Schreie. Panik. Menschen rennen in alle Richtungen.

Robinson springt vom Dach, landet, geht weg. Ruhig. Er lässt sein Gewehr in einem Gebüsch zurück, eingewickelt in ein Handtuch. Später wird er seinem Mitbewohner in einer Nachricht davon erzählen. Er wechselt die Kleidung. Verschwindet.

Ein Vater erkennt seinen Sohn

11. September, Abend

Matt Robinson starrt auf den Fernseher. Das FBI hat Fahndungsfotos veröffentlicht. Der Gang, die Haltung, die Gesichtszüge, das Shirt, die Art, wie er sein Smartphone immer in die rechte Hosentasche steckte – er erkennt seinen Sohn.

„Tyler, bist du das?“, fragt er. „Das sieht aus wie du.“

Matt Robinson, Tyler Robinson

Was folgt, ist ein quälender innerer Kampf. Matt Robinson, registrierter glühender Republikaner und erfolgreicher Geschäftsmann, leitet – wie bereits erwähnt – das familiengeführte Bauunternehmen, langjähriger Veteran (27 Jahre) bei der Washington County Sheriff’s Department in Utah, Vater von drei Söhnen, muss die schwerste Entscheidung seines Lebens treffen. Er überzeugt Tyler, der sich auch einem Freund vorher leicht anvertraut hatte, mit dem Jugendpastor der Familie zu sprechen, der auch mit den Strafverfolgungsbehörden zusammenarbeitet. Tyler gesteht. Aber als sein Vater ihn drängt, sich zu stellen, sagt er die Worte, die jeden Elternteil bis ins Mark erschüttern würden: „Ich würde mich lieber umbringen, als mich zu stellen.“ Matt Robinson war, der die entscheidende Rolle spielte. Er fuhr seinen Sohn zur Polizei. Um 22:00 Uhr wird Tyler Robinson festgenommen, aber kaum einer weiss es.

Dann folgte der Moment wie aus dem Drehbuch: Donald Trump saß am Freitagmorgen auf dem Sofa von „Fox & Friends“, als er die Nachricht verkünden durfte, die seine Anhänger elektrisieren sollte – der mutmaßliche Mörder von Charlie Kirk ist gefasst. Doch was wie ein spontaner Triumph klang, war minutiös vorbereitet. FBI-Direktor Kash Patel hatte die Festnahme über Stunden zurückgehalten, damit der Präsident die Schlagzeile selbst auf seinem Lieblingssender inszenieren konnte. Zwei Tage nach dem Attentat auf den Gründer von Turning Point USA gab Patel bekannt, dass der 22-jährige Tyler Robinson am Donnerstagabend um 22 Uhr in St. George, Utah, festgenommen wurde – Mitternacht an der US-Ostküste. Diese Information war nicht sofort an die Presse gegangen, nicht an Nachrichtenagenturen, nicht an die Öffentlichkeit. Stattdessen wartete man ab, bis Trump seine Bühne hatte. Es war der Präsident, nicht der oberste Strafverfolger der Nation, der den Moment beanspruchte.

Siehe unseren Artikel unter: https://kaizen-blog.org/wie-der-fbi-direktor-die-festnahme-von-kirks-mutmasslichem-moerder-fuer-trump-aufhob-keystone-kash-und-die-inszenierung-der-macht/

Die Munition erzählt eine Geschichte

Die gravierten Patronenhülsen sind wie ein Fenster in Tyler Robinsons Gedankenwelt. „Hey Faschist! Fang!“ – eine direkte Drohung. Die Pfeile, die möglicherweise Antifa-Symbole oder geheime Spielcodes darstellen. „Bella Ciao“ – das Lied der italienischen Partisanen gegen Mussolini. „Notices bulges, OwO, was ist das?“ – ein alberner, zweideutiger Netzspruch aus den finsteren Winkeln des Internets. „Wenn du das liest, bist du schwul, haha“ – Spott in seiner primitivsten Form. Diese groteske Mischung aus politischer Ideologie und höhnischem Netzhumor ist typisch für eine Generation, die in abgeschotteten Onlinewelten groß wird, in denen die Grenzen zwischen Spaß und Ernst, zwischen Ironie und tödlichem Fanatismus verschwimmen.

Das Versagen eines Systems

Wie konnte niemand die Zeichen sehen? Amber Robinsons letzte Facebook-Posts stammen aus dem Jahr 2022. Hatte sie aufgehört zu posten, oder hatte sie begonnen, sich Sorgen zu machen? Tyler lebte nur zehn Minuten von seinem Elternhaus entfernt, aber emotional waren es Lichtjahre. Adrian Rivera erinnert sich, dass Tyler oft bei den Junior ROTC-Schülern herumhing, fasziniert vom Militärischen. Er war ein „massiver Halo-Fan“, liebte Call of Duty und andere Shooter-Spiele. Die Grenze zwischen virtueller und realer Gewalt verschwamm. Discord sagt, sie hätten Robinsons Account nach der Schießerei entfernt, aber die Nachrichten über die Waffenbeschaffung „scheinen keine Discord-Nachrichten zu sein“. Stattdessen habe der Mitbewohner den Inhalt einer handgeschriebenen Notiz wiedergegeben. Selbst die digitalen Spuren sind verwischt.

Debbie Robinson

Obwohl MAGA-Galionsfiguren schnell mit dem Finger auf die Linke zeigten, um Kirks Tod zu erklären, betonte Tylers Großmutter Debbie Robinson, 69, dass ihre Familie aus Trump-Anhängern bestehe. „Mein Sohn, sein Vater, ist Republikaner und für Trump“, sagte Debbie dem Blatt. „Die meisten meiner Familienmitglieder sind Republikaner. Ich kenne keinen einzigen, der Demokrat ist.“ Ihre Worte klingen nicht wie eine politische Verteidigung, sondern wie der Versuch, das Unbegreifliche in ein vertrautes Weltbild einzuordnen – und lassen ahnen, wie tief der Schock in dieser Familie sitzt.

Debbie fügte hinzu, sie habe keine Vorstellung, warum ihr Enkel so etwas tun würde: „Ich bin einfach nur verwirrt. Er ist der schüchternste Mensch. Er hat mit mir noch nie, wirklich nie, über Politik gesprochen.“

Amerika, 2025: Ein Land am Abgrund

Tyler Robinson ist kein Einzelfall. Er reiht sich ein in eine endlose, erschütternde Galerie junger Männer – meist weiß, meist intelligent, meist isoliert –, die irgendwann den Schritt über die letzte Schwelle gehen und zu politischer Gewalt greifen. In einem Land, in dem 393 Millionen Waffen im Umlauf sind – mehr als es Menschen gibt –, in dem die politische Rhetorik immer apokalyptischer klingt, in dem junge Menschen ihre Realität nicht mehr unmittelbar, sondern durch den verzerrten Filter sozialer Medien wahrnehmen, wirkt der Name Tyler Robinson fast wie eine logische Konsequenz. Vielleicht war er unvermeidlich.

Joe Biden erweist Melissa Hortman und ihrem Mann Mark die letzte Ehre

Im Juni 2025 wurden die demokratische Abgeordnete Melissa Hortman und ihr Mann Mark in einem gezielten politischen Akt erschossen. Wenige Wochen später stürmte ein 19-Jähriger in Phoenix ein Wahlkampfbüro der Republikaner und eröffnete das Feuer. In Florida erschoss ein ehemaliger Marine zwei Menschen vor einer Bücherei, weil dort eine Pride-Veranstaltung stattfand. Die Liste geht weiter, immer weiter, ein düsteres Trommeln, das nicht aufhört. Jedes Mal folgen die gleichen Rituale: Schock, Trauer, Forderungen nach Veränderung, Sondersitzungen im Kongress, erschütterte Reden vor den Kameras. Und dann – nichts. Schweigen, Stillstand, ein Land, das für einen Moment innehält und dann wieder zur Tagesordnung übergeht, bis der nächste Name, der nächste Schuss, die nächste Tragödie Schlagzeilen macht.

Die Stille danach

Die Vorhänge im Robinson-Haus bleiben zugezogen. Nachbarn in Washington und St. George reagieren mit einer Mischung aus Schock und – bei einigen – Lob für die Familie, die ihren eigenen Sohn den Behörden übergab. „Es war völlig unerwartet“, sagt Jaida Funk. „Bei manchen Menschen, wenn ihre Identität herauskommt und sie als Schütze bezeichnet werden, sagen alle: ‚Man konnte es sehen.‘ Und er ist nicht einer dieser Menschen.“

Charlie Kirks Bücher steigen in den Bestsellerlisten auf. Vier seiner Werke erreichen die Top 10 bei Amazon, einschließlich eines noch unveröffentlichten Buches. Im Tod wird er zum Märtyrer einer Bewegung, die er im Leben anführte. Erika Kirk, seine Witwe, kämpft damit, ihren Kindern zu erklären, warum Daddy nicht nach Hause kommt. Präsident Trump und Vizepräsident JD Vance kündigen an, an der Beerdigung teilzunehmen. Die Flaggen wehen auf halbmast.

Eidesstattliche Erklärung über den hinreichenden Tatverdacht (Affidavit of Probable Cause)

Im Fall State of Utah vs. Tyler James Robinson legen die Ermittler dar, warum sie einen dringenden Tatverdacht sehen. Robinson, 22 Jahre alt, wurde am 12. September 2025 um 04:00 Uhr festgenommen. Ihm werden drei Straftaten zur Last gelegt: Mord mit erschwerenden Umständen, unerlaubtes Abfeuern einer Schusswaffe mit schwerer Körperverletzung und Behinderung der Justiz. Die Erklärung beschreibt detailliert, wie Charles Kirk am 10. September 2025 auf dem Campus der Utah Valley University während einer politischen Veranstaltung erschossen wurde. Laut Videoaufnahmen betrat Robinson am Vormittag das Gelände, ging über den Campus, durchquerte einen Fußgängertunnel und stieg schließlich auf das Dach des Losee Center. Dort legte er sich in Schussposition, feuerte einen einzelnen Schuss ab und traf Kirk in den Hals. Danach flüchtete er, kletterte vom Dach, rannte über den Campus und verschwand in Richtung Parkplatz.

Ermittler fanden eine Mauser-Repetierbüchse im Kaliber .30-06, in ein Tuch gewickelt, mit montiertem Zielfernrohr. Bei der Waffe lagen gravierte Patronenhülsen mit Botschaften wie „Notices bulge OwO what’s this?“, „Hey fascist! CATCH!“, einem rechten Pfeil mit weiteren Symbolen, „O Bella ciao, Bella ciao, ciao, ciao!“ und „If you read this, you are GAY lmao“. Außerdem entdeckten sie Schuhabdrücke auf dem Dach, die mit Robinsons Schuhwerk übereinstimmen. Ein Familienmitglied gab an, Robinson habe in den Tagen zuvor Charlie Kirk erwähnt und ihn als hasserfüllt bezeichnet. Ein Mitbewohner zeigte Ermittlern Discord-Nachrichten, in denen Robinson über das Abholen und Ablegen der Waffe, über die Gravuren auf den Patronen sowie über einen Kleiderwechsel schrieb. Screenshots dieser Nachrichten wurden als Beweismittel gesichert. Auf Grundlage dieser Indizien erklärte der ermittelnde Beamte Brian Davis vom Utah County Sheriff’s Office, dass hinreichender Verdacht besteht, dass Tyler Robinson die Tat begangen hat.

Tyler Robinson sitzt ohne Kaution im Utah County Jail. Ihm werden schwere Mordvorwürfe, illegaler Waffengebrauch mit schwerer Körperverletzung und Behinderung der Justiz vorgeworfen. Der schwere Mord könnte die Todesstrafe nach sich ziehen.

Die unbeantwortete Frage

Was bringt einen jungen Mann mit einem IQ im 99. Perzentil, mit liebevollen Eltern, mit allen Möglichkeiten der Welt dazu, sein Leben für einen einzelnen Schuss wegzuwerfen? Die Antwort liegt irgendwo in dem toxischen Gebräu aus Online-Radikalisierung, politischer Polarisierung, leichtem Waffenzugang und der eigenartigen Einsamkeit des digitalen Zeitalters. Tyler Robinson war gleichzeitig überall – auf Discord, in Shooter-Spielen, in politischen Foren – und nirgendwo, unsichtbar selbst für seine eigene Familie. Siehe auch unseren Artikel zum Netzwerk 764 und Terrorgram unter:

https://kaizen-blog.org/das-netzwerk-764-the-764-network/ +++ https://kaizen-blog.org/die-maschinen-der-finsternis-die-geschichte-von-terrorgram/

„Mein Gehirn schmerzt für ihn“, hatte seine Mutter 2020 geschrieben, stolz auf seine akademischen Leistungen. Jetzt schmerzen die Herzen einer ganzen Nation – für die Kirks, für die Robinsons, für ein Amerika, das zusieht, wie seine Söhne zu Mördern werden und nicht weiß, wie es das stoppen soll.

Die zwei Americas

In einem Amerika trauert eine konservative Bewegung um ihren gefallenen Anführer. Charlie Kirk wird als Märtyrer dargestellt, als Opfer der „radikalen Linken“, obwohl Tyler Robinsons politische Zugehörigkeit unklar bleibt. Im anderen Amerika wird diskutiert, ob Kirks eigene Rhetorik zu dem Klima beigetragen hat, das seine Ermordung ermöglichte. Einige weisen darauf hin, dass Hass Hass erzeugt, dass extreme Rhetorik extreme Reaktionen provoziert.

Beide Americas haben recht. Und beide liegen falsch. Die Wahrheit ist komplexer, schmerzhafter: Ein brillanter junger Mann wurde in den Strudel der amerikanischen Dysfunktion gezogen und kam als Mörder wieder heraus. Eine Familie, die alles richtig zu machen schien, musste zusehen, wie ihr Sohn zu allem wurde, was sie verachteten. Ein Land, das auf Freiheit gebaut wurde, muss zusehen, wie diese Freiheit seine Kinder verschlingt.

Tyler Robinson wird als das Gesicht politischer Gewalt in Erinnerung bleiben. Aber er ist auch das Gesicht eines tieferen amerikanischen Versagens – die Unfähigkeit, seine hellsten Köpfe vor den dunkelsten Impulsen zu schützen, die Unfähigkeit, Brücken über ideologische Gräben zu bauen, die Unfähigkeit, die Werkzeuge der Zerstörung von den Händen derer fernzuhalten, die zerstören wollen.

In den stillen Morgenstunden in Washington, Utah, bevor die Welt erwacht, mag Matt Robinson an den Jungen denken, der einmal ein Trump-Kostüm zu Halloween trug, der mit einem breiten Lächeln ein Maschinengewehr hielt, der mit perfekten Noten nach Hause kam. Er mag sich fragen, wann genau er seinen Sohn verlor – war es an der Universität? In den Online-Foren? Am Familientisch, als sie über Charlie Kirk sprachen? Die Antwort wird nie kommen. Nur die Stille bleibt, und die quälende Gewissheit, dass irgendwo in Amerika ein anderer brillanter junger Mann gerade jetzt vor seinem Computer sitzt, Patronen graviert und plant.

Die Timeline einer vermeidbaren Tragödie

  • Tyler trägt Trump-Kostüm zu Halloween, Familie besucht Militäreinrichtung
  • Tyler beginnt letztes Highschool-Jahr mit perfekten Noten
  • Tyler erhält 32.000-Dollar-Stipendium für die Utah State University
  • Tyler bricht nach einem Semester ab
  • Letzte öffentliche Facebook-Posts von Mutter Amber
  • Online-Petition gegen Kirks Auftritt startet
  • Universität verteidigt Redefreiheit
  • Familienessen-Diskussion über Kirk
  • Robinson erreicht Campus
  • Kirk beginnt Veranstaltung
  • Der tödliche Schuss
  • Notruf der Campus-Polizei
  • Trump verkündet Kirks Tod
  • Vater erkennt Sohn auf Fahndungsfotos
  • Tyler Robinson festgenommen
  • Anklage wegen schweren Mordes

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Rossmann
Rossmann
13 Tage zuvor

Moin, das muss ich erstmal verdauen. Ein grandioser Artikel.

Angelika
Angelika
12 Tage zuvor
Reply to  Rossmann

…Ihren Worten kann ich mich nur anschließen. DANKESCHÖN.

Muras R.
Muras R.
12 Tage zuvor
Reply to  Rossmann

Ja, ein großartiger Artikel, aber verdauen? Ich versuche zu verstehen, aber „mein Gehirn schmerzt“

Ela Gatto
Ela Gatto
12 Tage zuvor

Sehr gut recherchiert Timeline.

Aber ob es vor allem eine Onlineradikalisierung war?

Gerade die Stillen, wenig sozial agierenden Menschen verfangen sich oft in „Propaganda“.
Und weil sie still, fast unsichtbsr sind, bemerkt es Keiner.

Ob es eine „logische“ Erklärung für die Tat gibt?
Wir werden es nie wirklich erfahren.
Trump und seine Schergen werden dafür sorgen, dass es in ihr Schema passt.
Ich traue der Justiz nicht mehr in den USA. Schon gar nicht bei einem solch aufgeheizten Fall.

Befremdlich auch, dass seine Witwe, so kurz nach dem Tod, sich gleich mit einem pathetischen Interview ins Rampenlicht stellt.

Der Hass wird bleiben.
Trump und seine MAGA haben enormen Aufwind bekommen.
Die Demokratie ist ein Stück mehr gestorben.

Zurück bleibt eine (vermutlich) fassungslose Familie des Täters.
Und zwei kleine Kinder, die ohne Vater aufwachsen. Dafür mit der Würde, dass er ein „Märtyrer“ war.

Und weder Melissa Hortman, noch die unzähligen toten Kinder von Schulschießereien, finden bei MAGA eine Erwähnung.

Bei MAGA zählt eben nicht jedes Menschenleben 😢

Carola Richter
Carola Richter
12 Tage zuvor

Danke Rainer für diese aufwendige Recherche von allen Seiten ohne Partei zu ergreifen.
Deine Arbeit halte ich für so wichtig, beide Seiten zu beleuchten und sie gilt für die 2 Seiten von Amerika, aber auch für 2 Seiten in jedem Land, in dem sich Menschen radikalisieren. Eine Dokumentation als Film zur Aufklärung wäre wichtig neben diesem Artikel oder und einen Podcast, Wieder einmal Chapeau und Danke.

Lea
Lea
12 Tage zuvor

Ich frage mich, welche Möglichkeiten es überhaupt gäbe, solche Menschen, wie Tyler Robinson oder auch Charlie Kirk, so man sie überhaupt erreichen würde, aus ihren verstrudelten Positionen wieder rauszuholen oder ob sie endgültig verloren sind.

Ela Gatto
Ela Gatto
12 Tage zuvor
Reply to  Lea

In der Regel schafft man es leider nicht.
MAGA ist eine Sekte.
An Sektenmitglieder kommt man kaum ran. Es gibt auch nur wenige Aussteiger.
Das vereint alle Fanatiker ob rechts, links, religiös oder anders stark ideologisch geprägt

Liane Bosch
Liane Bosch
11 Tage zuvor

Brillant geschrieben. Vielen Dank.

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