Der Ausnahmezustand als Normalzustand – Wie ein Fall zeigt, dass in El Salvador nicht mehr nur Banden das Ziel sind

VonRainer Hofmann

Juni 2, 2025

Es war ein früher Samstagmorgen, als Ruth Eleonora López in ihrer Wohnung verhaftet wurde. Keine Vorladung, kein richterlicher Beschluss, kein Zeitrahmen – nur der vage Vorwurf, sie habe einem früheren Arbeitgeber bei einem Korruptionsfall geholfen. Zwei Wochen später sitzt die prominente Menschenrechtsanwältin immer noch in Haft. Ohne Anklage. Ohne Richter. Ohne Rechte. Was nach einem Einzelfall klingt, ist in Wahrheit Teil eines tieferliegenden Problems. Der sogenannte „Ausnahmezustand“, den Präsident Nayib Bukele im März 2022 ausrief, um die Bandenkriminalität zu bekämpfen, hat sich längst verselbständigt – und wird mittlerweile auf beliebige Straftaten angewendet: Trunkenheit am Steuer, Ladendiebstahl, sexuelle Übergriffe. Anwälte berichten von einem neuen Standard: 15 Tage bis zur ersten richterlichen Anhörung. Das ist das Maximum, das die Notstandsgesetze erlauben – und es wird zur Norm.

Fast 90.000 Menschen wurden seit Beginn der Operation „Krieg gegen die Maras“ verhaftet. Die allermeisten warten bis heute auf ihre Anklage. Doch inzwischen trifft es nicht nur mutmaßliche Bandenmitglieder. Es trifft auch Busfahrer, die sich weigern, Gratisfahrten anzubieten. Protestierende, die sich vor dem Präsidentenpalast gegen Zwangsräumungen wehren. Und eben Anwälte wie López, die in ihrer früheren Tätigkeit für die Organisation Cristosal nicht nur Korruption bekämpften, sondern die Regierung öffentlich kritisierten. Bukele selbst spricht offen über seine Strategie: „Sollen sie mich Diktator nennen – solange die Menschen in El Salvador in Frieden leben können.“ In seiner Rhetorik verschmelzen Effizienz, Verachtung für rechtliche Prozeduren und die klare Botschaft: Wer sich dem Regime in den Weg stellt, verliert seine Rechte.

Und so wird aus einem Sicherheitsprogramm ein Unterdrückungsapparat. Was als gezielte Maßnahme gegen Gewalt begann, ist zu einem politischen Werkzeug geworden – gegen Kritiker, gegen NGOs, gegen Unbequeme. Der Ausnahmezustand ist längst zur neuen Realität geworden, sagen Juristen. Ein Zustand, in dem selbst einfache Vergehen mit Notstandsrecht behandelt werden, in dem Haft ohne Anklage zum Standard geworden ist. Die Organisation Cristosal warnt: Der Fall López sei kein Einzelfall, sondern Teil einer systematischen Kriminalisierung kritischer Stimmen. Auch die Interamerikanische Menschenrechtskommission fordert die sofortige Aufhebung des Ausnahmezustands – die Sicherheitslage rechtfertige die Maßnahmen längst nicht mehr. Doch Bukele verfolgt einen anderen Kurs: Er will ein Gesetz durchsetzen, das jede NGO, die internationale Spenden erhält, als „ausländischen Agenten“ registrieren lässt – inklusive 30 Prozent Strafsteuer.

Was sich hier abzeichnet, ist nicht nur die Erosion der Rechtsstaatlichkeit. Es ist der kontrollierte Abstieg in eine autoritäre Staatsform, in der Rechte nicht gewährt, sondern zugeteilt werden. Wer dem Präsidenten widerspricht, steht auf der falschen Seite des Gesetzes – ganz gleich, ob es sich um einen Busfahrer handelt oder eine Menschenrechtsanwältin. Ruth Eleonora López, deren angebliche Tat auf ihre Zeit als Beraterin im Wahltribunal zurückgeht, ist nur ein Name. Doch hinter ihrem Fall steht eine größere Wahrheit: In El Salvador entscheidet nicht mehr das Gesetz, wer schuldig ist. Es entscheidet der Wille der Macht.

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