Das Schweigen der Masken – ICE, Angst und eine Nation im Griff der Abschiebung

VonRainer Hofmann

Juni 2, 2025

Es war ein Freitagabend, als der Rauch durch die Gassen von San Diego zog, als Schreie die Luft zerschnitten und schwer bewaffnete Männer in Taktikausrüstung durch ein italienisches Restaurant stürmten – kurz vor dem Abendessen, kurz bevor das Brot gebrochen werden konnte. Was folgte, war kein Einsatz gegen ein Kartell, keine Geiselbefreiung. Es war ein Routineeinsatz der US-Einwanderungsbehörde ICE. In Donald Trumps Amerika ist Routine neu definiert worden. Der Bürgermeister von San Diego, Todd Gloria, sagte, er sei „zutiefst erschüttert“. Kein Wunder: Die Szenen vor dem beliebten Restaurant Buona Forchetta wirkten wie aus einem Kriegsfilm. Und doch war dies nur eine Momentaufnahme – eine von vielen. Denn das Land befindet sich im Ausnahmezustand der Normalisierung. In einem Land, das sich täglich neu daran gewöhnt, dass Masken keine Scham mehr bedeuten, sondern Selbstschutz. Nicht für die Schwachen – sondern für die, die Macht ausüben.

Todd Lyons, amtierender Direktor von ICE, trat am Montag in Boston vor die Presse. Er sprach von Bedrohungen. Von Hassmails. Von Schutz für seine Beamten. „Ich werde niemanden rausschicken, der nicht weiß, ob er abends lebend heimkehrt“, sagte er, sichtbar bewegt. Und fügte mit Nachdruck hinzu: „Ich entschuldige mich nicht für die Masken.“ Fast 1.500 Menschen seien allein im Nordosten der USA im Rahmen einer einmonatigen „Sondereinsatzoperation“ verhaftet worden. Als er sich vom Podium abwenden wollte, rief ein Reporter: „Geht es wirklich nur um die Masken?“ Lyons hielt inne, kehrte zurück und fragte: „Oder geht es vielleicht darum, dass Familien unserer Beamten als Terroristen bezeichnet wurden?“ Die Bemerkung war eine Reaktion auf San Diegos Stadtrat Sean Elo-Rivera. Der hatte nach dem Einsatz in der Buona Forchetta geschrieben: „Das ist keine Sicherheit. Das ist staatlich gesponserter Terrorismus.“ Das Heimatschutzministerium reagierte mit Empörung – und repostete Elo-Riveras Beitrag, nur um ihn zu verurteilen. Doch Elo-Rivera blieb standhaft. Was für die einen Schutz bedeutet, ist für die anderen ein Angriff auf das soziale Gewebe.

Auch andere Demokraten, darunter Abgeordneter Scott Peters, kritisierten ICE. Bürgermeister Gloria sagte: „Solche Aktionen untergraben das Vertrauen und säen Angst. Sie haben das Gegenteil von Sicherheit bewirkt.“ Die Eigentümer der Buona Forchetta schlossen alle ihre Standorte in Südkalifornien für zwei Tage. In einer Erklärung schrieben sie: „Wir sind untröstlich. Das Ereignis hat eine Wunde hinterlassen – in unseren Küchen, unseren Gasträumen, unseren Herzen.“ Worte wie diese gab es früher nur nach Gewaltverbrechen, heute genügen Uniformen mit ICE-Aufschrift. Lyons erklärte am Sonntag im Trump-nahen Frühstücksfernsehen „Fox & Friends“, dass ICE derzeit rund 1.600 Festnahmen pro Tag durchführe – ein Anstieg um das Zweieinhalbfache im Vergleich zur Zeit vor dem 20. Januar. Und das ist offenbar nicht das Ende der Fahnenstange.

Stephen Miller, Vordenker von Trumps Einwanderungspolitik und Architekt der Abschottung, legte vergangene Woche die Latte noch höher: 3.000 Festnahmen pro Tag – Minimum. Das Problem? ICE ist längst überfüllt. Schon im Mai wurden durchschnittlich 46.000 Personen gleichzeitig festgehalten – weit über dem offiziell finanzierten Rahmen. Menschen, zusammengepfercht in Lagern, die nicht für diesen Ausnahmezustand gebaut wurden. Doch Miller sagt: „Wir können mehr.“ Und so geraten nicht nur Restaurants ins Visier, sondern ganze Städte. „Wenn Sanctuary Cities ihre Politik ändern würden, bräuchten wir diese Operationen nicht“, sagte Lyons. Was er verschwieg: Das Heimatschutzministerium hatte eine Liste mit über 500 solcher Städte veröffentlicht – und sie später wegen schwerer Fehler wieder offline genommen. Selbst konservative Sheriffs hatten widersprochen. Lyons sprach in Boston vor einer Tafel mit Fahndungsfotos. Ohne Namen. Ohne Kontexte. Eine Liste der Festgenommenen: nicht verfügbar. Die konkreten Vorwürfe: unbekannt. Nur eines sagte Lyons mit Sicherheit: „Es sind gefährliche Kriminelle. Sie terrorisieren Familien, Nachbarn, ganze Gemeinden.“

Am Samstagmorgen dann die nächste Schlagzeile: 66 Festnahmen bei einer Razzia in einem Nachtclub in Charleston County, South Carolina – zur Geisterstunde. Homeland Security sprach von einer „Kartell-Afterparty“. Was genau den Festgenommenen vorgeworfen wird? Wurde nicht gesagt. Was bleibt, ist ein Bild: Maskierte Beamte, Kinder in Tränen, ein Restaurant, das für zwei Tage schließt, weil es den Schock nicht verkraftet. Ein ICE-Direktor, der nicht über die Menschen spricht, die abgeschoben werden, sondern über die Beamten, die sie abholen. Und eine Regierung, die Abschiebung als Rettung verkauft. Vielleicht war es tatsächlich nur ein Freitagabend. Vielleicht war es ein Einzelfall. Aber vielleicht war es auch ein Blick auf das neue Amerika – ein Land, in dem die Uniform lauter spricht als das Gesetz. In dem das Wort „Sicherheit“ zur Worthülse wird. Und in dem Masken keine Scham mehr bedeuten – sondern ein Zeichen dafür sind, dass man längst weiß, wie viel Angst man verbreitet.

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