In der internationalen Debatte um den Nahostkonflikt taucht ein Vorwurf in immer neuen Wellen auf: Die UNRWA, das Hilfswerk der Vereinten Nationen für Palästinensische Flüchtlinge im Nahen Osten, bilde Kinder im Gazastreifen im Umgang mit Waffen aus oder toleriere gar militärische Indoktrination in ihren Schulen. Diese Behauptung ist nicht nur faktisch falsch, sondern auch in ihrer Wirkung fatal. Sie entbehrt jeder juristischen Grundlage, jeder strukturellen Beweisführung – und sie verkennt die Funktion internationaler humanitärer Organisationen in einem besetzten, entrechteten und durch blockierte Infrastruktur massiv geschwächten Raum.
I. Der Auftrag der UNRWA: Schutz, Versorgung, Bildung
Die UNRWA wurde 1949 durch Resolution 302 der UN-Generalversammlung gegründet. Ihr Mandat ist eindeutig humanitärer Natur: Schutz und Versorgung palästinensischer Flüchtlinge in Gaza, dem Westjordanland, Jordanien, Syrien und dem Libanon. Die Organisation betreibt in Gaza über 280 Schulen, 22 Gesundheitszentren und ist für hunderttausende Menschen der einzige Zugang zu medizinischer Versorgung, Lebensmitteln und Bildung. Ihre Schulen unterliegen einem strikten Neutralitätsprinzip. Weder bewaffnete Akteure noch politische Agitation sind auf dem Schulgelände erlaubt. Wer dies verletzt, wird nach UN-Verfahren disziplinarisch verfolgt und ggf. entlassen.
Dass Kinder in Gaza in bewaffnete Konflikte hineingezogen werden, ist tragisch und real. Doch sie werden nicht von der UNRWA bewaffnet. Die UNRWA hat wiederholt klar gemacht, dass sie keinerlei Verbindung zu paramilitärischen Camps unterhält – weder in der Organisation, noch durch ihre Angestellten. Ihre Bildungseinrichtungen werden unabhängig evaluiert, u.a. durch das External Monitoring Framework (EMF), das mit europäischer Beteiligung Inhalte und Praktiken vor Ort überprüft. Wer etwas anderes behauptet, ignoriert die Struktur und das internationale Kontrollregime der Vereinten Nationen.
II. Die Desinformationskampagne gegen die UNRWA
2024 – nach dem Terrorangriff der Hamas am 7. Oktober – wurden schwere Vorwürfe laut: Mehrere UNRWA-Mitarbeiter seien in die Attacke verwickelt gewesen. UN-Generalsekretär António Guterres initiierte daraufhin eine unabhängige Untersuchung, geleitet von Frankreichs ehemaliger Außenministerin Catherine Colonna. Das Ergebnis wurde im April 2024 vorgelegt:
„Es fanden sich keine strukturellen Belege für eine institutionelle Komplizenschaft der UNRWA mit bewaffneten Gruppen. Einzelne Verdachtsfälle wurden identifiziert, untersucht, disziplinarisch verfolgt.“
Zahlreiche Staaten, die zwischenzeitlich ihre Unterstützung pausierten, nahmen die Zahlungen wieder auf, darunter Deutschland, Schweden, Australien und Kanada. Auch Israel kooperierte weiter mit der UNRWA bei der Koordination humanitärer Hilfe – ein stilles Eingeständnis, dass die UNRWA für die Stabilität der Zivilbevölkerung unverzichtbar ist. Und doch: In sozialen Medien kursieren weiter Videos und Bilder aus sogenannten „Futuwwa-Camps“ der Hamas – auf denen Kinder Kalaschnikows zerlegen, Tunneltraining absolvieren oder mit antisemitischer Rhetorik indoktriniert werden. Diese Lager existieren. Aber sie werden von der Hamas organisiert, nicht von der UNRWA. Das Middle East Media Research Institute (MEMRI), eine der Quellen solcher Bilder, hat nie einen direkten Bezug zu UNRWA-Einrichtungen hergestellt. Dennoch werden diese Inhalte in westlichen Debatten so kontextualisiert, dass der Eindruck einer strukturellen UNRWA-Beteiligung entsteht.

III. Die Rolle der Hamas und die Grenze der Verantwortung
Die Hamas unterhält seit mindestens 2013 eigene Sommerlager mit bis zu 100.000 Kindern und Jugendlichen. Diese Lager – „Setzlinge von Jerusalem“, „Schild von Al-Aqsa“ u.ä. – werden mit dem ausdrücklichen Ziel betrieben, die nächste Generation auf den „bewaffneten Widerstand“ vorzubereiten. MEMRI und andere Organisationen haben zahlreiche Videos und Statements dokumentiert: von Jugendlichen mit Gewehren bis zu Choreografien, in denen israelische Soldaten überwältigt werden. Die Kurse beinhalten Waffenlehre, Nahkampf, Geländetaktik und Ideologie. Aber: All das findet nicht in UNRWA-Schulen statt. Die Camps sind von der Hamas organisiert, finden auf separatem Gelände statt, oft unter Aufsicht uniformierter Al-Qassam-Brigaden. Die Schulpläne der UNRWA folgen der Curriculum-Vorgabe des Gastlandes (in Gaza: der palästinensischen Autonomiebehörde) und unterliegen der Evaluation externer Kommissionen. Wenn einzelne Schüler:innen aus UNRWA-Schulen später in Hamas-Strukturen übergehen, ist das Ausdruck der gesellschaftlichen Verhältnisse in Gaza – nicht Ausdruck institutioneller Unterstützung.
IV. Völkerrechtliche Dimension: Kind, Kämpfer, Opfer
Ein wiederkehrendes Argument: Die UN zähle alle Getöteten unter 18 als „Kinder“, auch wenn sie bewaffnet waren. Diese Zählung sei manipulativ. Tatsache ist: Die UN orientiert sich am Übereinkommen über die Rechte des Kindes (CRC). Es definiert jede Person unter 18 Jahren als Kind, unabhängig von deren Handlungen. Auch UNICEF, Human Rights Watch, OCHA und Amnesty International zählen demgemäß. Wer Kinder in bewaffnete Auseinandersetzungen zieht, macht sie nicht zu „legitimen Zielen“. Er macht sie zu Kindersoldaten. Und das ist völkerrechtswidrig – für die, die rekrutieren, wie für jene, die töten. Die Zahl der getöteten Kinder im Gazastreifen umfasst auch Babys, Kleinkinder, Schulkinder. Die Vorstellung, es handele sich mehrheitlich um bewaffnete Teenager, ist nicht nur empirisch falsch. Sie ist auch ein Versuch, das moralische Gewicht ziviler Opfer zu relativieren.
V. Der Fall von 2004 – Instrumentalisierung und Mythos
Ein Fall, der regelmäßig oft rechten oder verschwörungsorientierter Medien wiederaufbereitet wird, betrifft einen angeblichen Selbstmordanschlag im März 2004. Dabei sei ein palästinensischer Jugendlicher mit Down-Syndrom an der israelischen Kontrollstelle Hawara nahe Nablus aufgegriffen worden – mit einem Sprengstoffgürtel unter einem zu großen Parka. Eine Woche zuvor soll ein 11-jähriger Junge durch denselben Checkpoint geschickt worden sein, angeblich mit der Aufgabe, einer wartenden Frau auf der anderen Seite eine Bombe zu übergeben. Die Associated Press veröffentlichte diese Geschichte damals – allerdings ausschließlich auf Basis von Angaben der israelischen Armeeführung. Selbst dort waren die Aussagen abweichend, einige Armeemitglieder verweigerten die Unterschrift. Es gab weder Fotos, noch forensische Unterlagen, keine Aussagen der mutmaßlich Betroffenen, keine medizinische Dokumentation und auch keine unabhängige Bestätigung durch NGOs oder UN-Organisationen. Der angebliche 16-jährige Täter mit Behinderung wurde nie identifiziert, nie befragt, nie gerichtlich behandelt. Der Bericht blieb vage – und wurde dennoch vielfach zitiert, ohne einen einzigen Beweis. Internationale Menschenrechtsorganisationen warnten früh vor der politisch-emotionalen Aufladung solcher Erzählungen. Klar ist: Jeder Missbrauch von Kindern – ob durch Hamas, Fatah oder andere – ist ein schwerer Bruch internationalen Rechts. Doch ebenso gilt: Geschichten über Kinder mit Behinderung als Bombenträger wurden häufig von Nachrichtendiensten oder Militärsprechern lanciert, ohne verlässliche Quellenlage. Ihre Wiederholung ohne Kontext trägt nicht zur Aufklärung bei, sondern zur Entmenschlichung ganzer Bevölkerungsgruppen. Und wer daraus ein Argument gegen zivile Schutzmechanismen wie die UNRWA konstruiert, stellt bewusst Propaganda über nachprüfbare Fakten.
Ein Bild, ein Mythos – Wie ein Jugendlicher zum Symbol einer Propagandageschichte wurde
Er steht allein auf der Straße, die Ärmel des viel zu großen Parkas hängen bis zu den Knien. Hinter ihm: ein israelischer Soldat mit Sturmgewehr, dahinter ein Militärfahrzeug, Flagge im Wind. Das Foto ging um die Welt. Es zeigt einen palästinensischen Jugendlichen am israelischen Checkpoint Hawara bei Nablus im März 2004. Und es wurde begleitet von einer Geschichte, die sich bis heute in Foren, Artikeln und politischen Argumentationen wiederfindet – obwohl sie nie verifiziert wurde. Die Behauptung lautete: Der Junge, 16 Jahre alt, habe einen Sprengstoffgürtel getragen, sei am Checkpoint aufgehalten worden und habe später ausgesagt, er wolle gar nicht sterben – ihm sei versprochen worden, dass er nach dem Tod mit 70 Jungfrauen belohnt werde. Er habe das Down-Syndrom, hieß es, und man habe ihm 100 Schekel gezahlt, damals rund 20 Euro. Die Quelle dieser Aussagen? Allein das israelische Militär. Es gab keine unabhängige Bestätigung, keinen Gerichtsprozess, keinen offiziellen Namen. Und dennoch – die Geschichte verbreitete sich, weil das Bild dazu perfekt passte. Doch was zeigt das Bild tatsächlich? Einen verängstigten Jugendlichen, der in einem viel zu großen Mantel steht, auf einer Straße, überwacht von Soldaten. Keine sichtbaren Waffen. Kein Sprengstoff. Kein Beweis. Das Bild selbst ist authentisch, aufgenommen von einem Team der Associated Press – das macht es so wirkungsvoll. Es wurde zum Beleg gemacht für etwas, das nie nachgewiesen wurde. Die Lücke zwischen Foto und Erzählung füllten später andere: Militärsprecher, Kommentatoren, Blogger. Das Bild wurde zum Erzählvehikel, zur Vorlage für eine Geschichte, die sich politisch nützlich machte – nicht nur in Israel, sondern weltweit. Es ist ein Lehrstück darüber, wie Bilder funktionieren können – und wie gefährlich die Verbindung von Fotografie und unbelegten Behauptungen ist. Denn sie emotionalisiert, ohne zu hinterfragen. Wer das Bild sieht, fühlt mit dem Kind – oder fürchtet sich vor ihm. Beides nutzt einer politischen Agenda. Dass das Kind eine Behinderung gehabt haben soll, dass es getäuscht oder instrumentalisiert wurde – all das lässt sich weder belegen noch entkräften. Aber es wiederholt sich wie ein Echo in den Kommentaren derer, die daraus eine Wahrheit gemacht haben wollen. Wer heute über Propaganda spricht, über Desinformation, über emotionale Manipulation im digitalen Zeitalter, sollte dieses Foto nicht ignorieren. Denn es zeigt: Man braucht nicht viel – nur ein echtes Bild, eine erfundene Geschichte und ein Publikum, das bereit ist, zu glauben. Was bleibt, ist das Gesicht eines Jungen, der vielleicht nichts anderes wollte als nach Hause gehen. Und eine Welt, die daraus eine Geschichte formte, die größer war als sein eigenes Leben.

VI. LOSI Network und der Schutz humanitärer Institutionen
Als Mitglied des LOSI-Netzwerks – Legal Observations for Strategic Interventions – ist es meine Aufgabe, Desinformation, propagandistische Verzerrung und Angriffe auf den humanitären Raum zu dokumentieren und rechtlich zu kontextualisieren. In keiner anderen Debatte ist die Aushöhlung internationaler Normen so deutlich sichtbar wie bei der Delegitimierung der UNRWA. Wenn die UNRWA fälschlich als Komplizin einer Terrorbewegung dargestellt wird, obwohl sie faktisch die einzige institutionelle Lebensader für hunderttausende Zivilist:innen ist, wird nicht nur die Wahrheit verletzt – es wird konkrete Hilfe sabotiert. Lehrerinnen, Ärzte, Sozialarbeiterinnen geraten ins Fadenkreuz. Und Staaten, die auf diese Narrative hereinfallen, entziehen in Folge Mittel – mit dramatischen Folgen.

Wer behauptet, die UNRWA bilde Kinder an Waffen aus, handelt entweder aus Unwissenheit oder mit dem Ziel gezielter Diskreditierung. Beide Varianten sind mit den Grundsätzen internationaler Zusammenarbeit unvereinbar. Die UNRWA ist kein politischer Akteur. Sie ist eine Schutzstruktur. Sie arbeitet unter extremen Bedingungen, oft unter Beschuss, ohne politischen Rückhalt. Aber sie arbeitet – und das mit Transparenz, internationaler Kontrolle und unermüdlichem Engagement für Kinderrechte. Die Rhetorik gegen sie ist nicht nur eine Lüge. Sie ist ein Angriff auf die letzten zivilen Inseln inmitten des Chaos. Und es liegt an uns allen – als Journalist:innen, als Jurist:innen, als Mitglieder multilateraler Netzwerke – diese Inseln zu verteidigen.
Quellen: Colonna-Report (UN, April 2024), MEMRI Dispatches 10107, 10712, 10381, UNICEF/UNCRC Reports 2023/24, OCHA Protection Cluster Bulletins, UNRWA Field Office Reports 2024/25, Stellungnahmen deutscher und schwedischer UN-Missionen (2024), LOSI Network Documentation (2023–2025), AP-Bericht 2004 zum Fall Hawara, NGO-Briefings zu Kindesmissbrauch in bewaffneten Gruppen (2004–2010)
Oopps
Sehr gut dokumentierter Artikel, der Einsichten gibt und sehr gut aufklärt. Leider gibt es eine Masse an Verschwörungstheoretikern, die mit Halbwahrheiten die Plattformen belagern. Machen sie weiter so. Chapeau.
Danke. Da ist Rainer natürlich ein absoluter Spezialist in diesen Bereichen.
Und wieder was gelernt. Danke