Die stille Revolution – Warum wir Pride feiern sollten, ohne Geschichte umzuschreiben

VonKatharina Hofmann

Juni 30, 2025

Pride Month geht zu Ende – und vielleicht haben Sie kaum bemerkt, dass er begonnen hat. In diesem Jahr war es auffallend still: keine regenbogenfarbenen Logos bei großen Konzernen, keine bunten Produktlinien, keine öffentlichkeitswirksamen Statements. Der Grund? Angst. Angst vor rechten Boykottaufrufen, vor digitalem Shitstorm, vor politischen Repressalien durch eine zunehmend feindselige Trump-Regierung. Doch wer letzten Samstag gegen zehn Uhr morgens Kylie Minogue unter seinem Fenster dröhnen hörte, weiß: Pride lebt. Und das nicht wegen Instagram, sondern weil Menschen auf die Straße gehen – um zu feiern, zu tanzen, zu trinken, zu trotzen. Und weil sie sich erinnern wollen. An Stonewall. An den Anfang. Doch gerade dieser Anfang ist zum Gegenstand eines neuen Kulturkampfs geworden. Es geht um Deutungshoheit. Um die Frage, wem die Geschichte der queeren Emanzipation eigentlich gehört. Eine neue Biografie der Aktivistin Marsha P. Johnson, geschrieben von der trans Autorin und Künstlerin Tourmaline, behauptet, Johnson sei die zentrale Figur der Stonewall-Aufstände von 1969 gewesen. Ihre Erzählung: Eine schwarze, obdachlose, transsexuelle Sexarbeiterin habe den ersten Stein geworfen – und damit die weltweite Bewegung für queere Rechte ausgelöst. Das Buch – gefeiert von Allure, empfohlen von der New York Times – erhebt Johnson zur Ikone eines intersektionalen Aktivismus, der heute vor allem in progressiven Kreisen Maßstab für historische Anerkennung ist. Je mehr marginalisierte Identitäten sich in einer Person bündeln, desto größer ihre Strahlkraft.

Doch so simpel war es nie. Marsha P. Johnson war eine beeindruckende Figur – mutig, eigenwillig, sichtbar. Aber sie selbst hat in einem Interview 1989 gesagt, dass das Stonewall Inn bereits in Flammen stand, als sie dort eintraf. Sie war keine Anführerin des Aufstands – sie war Teil des Moments, aber nicht sein Auslöser. Sie nannte sich selbst Drag Queen, nicht Transfrau. Die Vorstellung, sie sei die große Strategin des Widerstands, verkennt sowohl die historische Komplexität als auch Johnsons eigenes Leben: geprägt von Armut, psychischer Erkrankung, instabilen Verhältnissen. Sie gründete mit anderen ein informelles Obdachlosenprojekt für queere Jugendliche, das bald wieder aufgelöst wurde, weil niemand die Miete zahlte. Sie hielt Reden, marschierte bei Paraden mit – und verbrachte viele Jahre in Einrichtungen und auf der Straße. Eine würdige Persönlichkeit, zweifellos. Aber keine queere Gandhi. Das Problem ist nicht die Würdigung von Marsha P. Johnson – sondern die Auslöschung all jener, die ebenfalls Geschichte geschrieben haben, aber weniger plakativ ins Heute passen. Weiße, schwule Männer zum Beispiel, die in den 70ern, 80ern und 90ern als Lehrer, Buchhalter oder Beamte in ihren konservativen Gemeinden out blieben, Nachbarschaftsfeste organisierten, sich mit Politikern anfreundeten – und ganz leise das Vertrauen ihrer heterosexuellen Umgebung gewannen. Diese „respektablen“ Schwulen haben Gerichtsentscheidungen beeinflusst, Allianzen geschmiedet, Lebensrealitäten verändert. Keine Revolution mit brennenden Barrikaden – sondern eine stille, schmerzhafte, nachhaltige Normalisierung. Nicht mit dem Molotowcocktail, sondern mit dem Mortgage-Antrag. Nicht mit dem Megafon, sondern mit dem Abendessen bei Kennedy.

Denn am Ende hat sich die Gleichstellung nicht durchgesetzt, weil queere Menschen radikaler wurden, sondern weil sie als Nachbarn, Kollegen, Freunde sichtbar wurden – und dabei blieben. Sie überzeugten die Mitte, weil sie Teil davon waren. Das ist keine heroische Erzählung im klassischen Sinn. Sie hat keine klaren Helden, keine dramatischen Momente, keine Tränengas-Bilder. Aber sie ist es, die die Welt verändert hat. Wir sollten Marsha P. Johnson nie vergessen – für das, was sie war: eine Kämpferin am Rande der Gesellschaft, die gesehen werden wollte. Aber wir sollten aufhören, sie zur zentralen Figur einer Bewegung zu machen, die Millionen von Menschen mitgetragen haben. Nicht trotz ihrer Normalität, sondern gerade deshalb. Denn so sieht Fortschritt aus: langsam, widersprüchlich, mühsam. Und mitunter erstaunlich unspektakulär. Aber das macht ihn nicht weniger wertvoll.

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