Es beginnt mit einem Bild, das viele für unmöglich hielten: US-Marines, ausgebildet für Kriegseinsätze in Afghanistan oder Syrien, bereiten sich darauf vor, auf amerikanischem Boden gegen amerikanische Bürger zu agieren – mitten in Los Angeles. Präsident Donald Trump hat den Einsatz von 700 aktiven Soldaten des 2. Bataillons der 7. Marines beschlossen, obwohl bereits über 4.000 Mitglieder der Nationalgarde im Einsatz oder bereitgestellt sind. Der Grund: wachsende Proteste gegen seine verschärfte Deportationspolitik.
Die juristische Lage ist heikel, der demokratische Widerstand massiv, und doch scheint das Weiße Haus bereit, das zu tun, was sich bisher keine Regierung getraut hat: die Grenze zwischen ziviler Ordnung und militärischer Macht bewusst zu verwischen. Will Trump mit aller Gewalt testen, wie weit er die amerikanische Verfassung beugen kann, ohne sie formell zu brechen?
Kein Insurrection Act – (noch) nicht
Offiziell wurde der Insurrection Act – ein fast mythisches Gesetz, das dem Präsidenten erlaubt, reguläre Truppen zur Wiederherstellung von Recht und Ordnung einzusetzen – noch nicht aktiviert. Die Marines sollen „nur“ Bundesgebäude und -personal schützen, nicht demonstrierende Bürgerinnen und Bürger unterdrücken. Doch das ist ein schmaler Grat. „Wenn diese Marines tatsächlich Zivilisten anfassen, durchsuchen oder festhalten, stehen wir vor ernsthaften rechtlichen Problemen“, warnt Elizabeth Goitein vom Brennan Center for Justice. Bislang, so betont das Pentagon, seien die Soldaten mit Schusswaffen, aber nicht mit Tränengas ausgestattet – und dürften nur in Notwehr handeln. Warnschüsse seien laut AP vorliegenden Einsatzregeln untersagt. Doch das reicht nicht, um die Sorgen zu zerstreuen.
Die Entscheidung, Marines in einer Metropole wie Los Angeles einzusetzen, entfaltet eine enorme Symbolkraft: Der Staat sieht seine Bürger nicht länger als Partner, sondern als Bedrohung. Verteidigungsminister Pete Hegseth, ein ideologisch treuer Gefolgsmann Trumps, hatte die Möglichkeit des Einsatzes am Samstagabend auf seinem privaten X-Account öffentlich gemacht – bevor das Pentagon überhaupt darüber beraten hatte. Ein Affront für viele in den höchsten Reihen der Streitkräfte. Selbst innerhalb der Marine gibt es Unruhe: Sollte man lieber erfahrene Offiziere schicken, um das Risiko falscher Entscheidungen im Umgang mit der Zivilbevölkerung zu minimieren?
Die Proteste entzündeten sich an einer bundesweiten Razzia gegen mutmaßlich „illegale“ Beschäftigte – eine Maßnahme, die viele als gezielten Einschüchterungsversuch verstehen. In deren Verlauf wurde David Huerta, Präsident der kalifornischen Gewerkschaft SEIU, verhaftet – ein weiterer Beleg dafür, dass Trumps Regierung nicht mehr zwischen Zivilgesellschaft und Staatsfeind unterscheidet.
Die Verfassung als Restposten?
Während die Situation in LA eskaliert – Tränengas, Straßensperren, brennende Fahrzeuge –, wirkt das juristische Fundament, auf dem dieser Einsatz ruht, zunehmend porös. Der Posse Comitatus Act verbietet dem Militär grundsätzlich, polizeiliche Aufgaben auf US-Territorium zu übernehmen. Nur in Ausnahmefällen, etwa beim Insurrection Act, dürfen diese Regeln aufgehoben werden. Doch bisher existiert keine klare Rechtsgrundlage für das, was sich jetzt anbahnt. Die Marines erhalten Karten mit Einsatzregeln – eine Art Gebrauchsanweisung für die Gewaltanwendung im eigenen Land. Selbst die Möglichkeit, Zivilisten „vorübergehend festzusetzen“, wird in einem internen Pentagon-Memo erwähnt. Dabei gilt laut vierter Verfassungszusatz: Keine Festnahme ohne triftigen Grund. Doch was bedeutet „triftig“, wenn der Präsident selbst den Ton der Eskalation vorgibt?
Die entscheidende Frage lautet nicht mehr, ob Trump das Militär einsetzen will, sondern wie weit er geht – und wann der letzte institutionelle Damm bricht. Der Marschbefehl für die Marines markiert nicht nur eine juristische Grauzone, sondern eine moralische Bankrotterklärung. Wer Kriegssoldaten in städtische Proteste schickt, hat das Vertrauen in demokratische Aushandlungsprozesse aufgegeben – oder nie besessen.
Was derzeit in Los Angeles geschieht, ist keine einmalige Fehlentscheidung. Es ist ein Testballon. Ein Versuch, die Reaktion der Bevölkerung, der Gerichte, der Medien und der internationalen Gemeinschaft auszuloten. Der Moment, in dem die USA herausfinden könnten, wie nah sie bereits an einer autoritären Wende stehen. Donald Trump hat sich entschieden, das politische Feuer weiter anzufachen – mit Benzin aus Twentynine Palms. Die Frage ist nicht mehr, ob er es auf die Spitze treiben will. Die Frage ist: Wer hält ihn auf? Und wie viele Uniformierte werden dann schon auf der Straße stehen?