91 Drohnen, kein Beweis und noch weitere Kreml-Märchen

VonRainer Hofmann

Dezember 30, 2025

Donald Trump sagt, Wladimir Putin habe ihn persönlich darüber informiert, dass die Ukraine versucht habe, eine seiner Residenzen mit Drohnen anzugreifen. Ein schwerer Vorwurf, vorgetragen in einem sensiblen Moment laufender Gespräche über ein mögliches Ende des Krieges. Doch was folgt, ist kein Beleg, keine unabhängige Bestätigung, keine nachprüfbare Information. Sondern eine Geschichte, die genau dort auftaucht, wo Verhandlungen stocken – und die Russland augenblicklich nutzt, um seine Haltung zu verschärfen.

Trump sagte, Putin sei sehr „wütend“, dass die Ukraine versucht habe, seine Residenz anzugreifen.

Dieser Angriff ist weder belegt noch bestätigt. Es gibt keine Bilder oder Videos – dabei wäre genau das problemlos möglich gewesen, wenn er tatsächlich stattgefunden hätte. Es handelt sich um die übliche Kreml-Propaganda

Trump spricht von einem „guten Telefonat“ mit Putin. Er sagt, er sei „sehr wütend“ gewesen, als Putin ihm von dem angeblichen Angriff berichtet habe. Gleichzeitig räumt er ein, keine eigene Bestätigung zu haben. Die Quelle ist Putin selbst. Mehr nicht. Auf Nachfrage erklärt Trump, man werde „sehen“, ob sich das bestätige. Er deutet sogar an, dass der Angriff möglicherweise nicht stattgefunden habe. Doch zu diesem Zeitpunkt ist der politische Schaden bereits angerichtet. Moskau erklärt, seine Verhandlungsposition werde überprüft. Härtere Linien werden angekündigt. Das Wort Drohnenangriff wirkt wie ein Schalter.

Sergej Lawrow

Die russische Darstellung ist schnell erzählt und voller Brüche. Außenminister Sergej Lawrow spricht von 91 ukrainischen Drohnen, die eine Residenz Putins in der Region Nowgorod angegriffen hätten. Alle seien abgeschossen worden. Es habe keine Schäden gegeben, keine Verletzten. Welche Residenz genau gemeint sei, bleibt offen. Die Region beherbergt das sogenannte Waldai-Anwesen, einen abgeschirmten Rückzugsort Putins, tief im Wald, ohne öffentliche Termine, ohne Symbolik. Der Gouverneur der Region spricht später von 41 abgeschossenen Drohnen, nennt aber ebenfalls kein Ziel. Zahlen schwanken, Details fehlen, Beweise werden nicht vorgelegt, fehlen die üblichen harten Indikatoren: eindeutiger Treffernachweis am Objekt, unabhängige Geolokation, verifizierbare Trümmerdaten, konsistente Chronologie.

Die Ukraine weist die Vorwürfe umgehend zurück. Präsident Wolodymyr Selenskyj nennt die Geschichte eine vollständige Erfindung. Außenminister Andrij Sybiha spricht von einem Vorwand, um weitere Angriffe zu rechtfertigen und den Krieg zu verlängern. Ukrainische Stellen verweisen darauf, dass Drohnen gezielt gegen militärische Infrastruktur eingesetzt werden, gegen Treibstofflager, Logistik, Waffenproduktion. Nicht gegen leerstehende Gebäude ohne militärische Funktion. Ein Angriff mit 91 Drohnen auf eine mutmaßlich unbewohnte Residenz ergibt militärisch keinen Sinn. Auch Netzwerke, mit denen wir zusammenarbeiten, reagieren einheitlich: Kopfschütteln. Keine Bestätigung, keine Hinweise, nichts, was die russische Darstellung stützt.

Trotzdem entfaltet die Geschichte ihre Wirkung. Russland verbindet die angebliche Attacke mit der Ankündigung, bisherige Verständigungen zu überdenken. Putins Berater Juri Uschakow erklärt, die Amerikaner müssten dafür „Verständnis haben“. Das ist bemerkenswert. Denn während Trump öffentlich erklärt, er glaube Putin, nutzt Moskau genau dieses Vertrauen, um Druck aufzubauen. Analysten in Russland sprechen bereits davon, dass nun auch die vollständige Kontrolle über Saporischschja und Cherson gefordert werden könnte. Regionen, die Russland bislang nur teilweise besetzt hält.

Kupjansk erobert – rückwärts aus der Stadt, das nächste Kreml-Märchen

Russlands Militärsender Swesda präsentierte Ende Dezember Videos aus Kupjansk als angeblichen Beleg für die Einnahme der Stadt. Die Bilder sollten Stärke zeigen, Kontrolle, Fortschritt. Tatsächlich zeigen sie etwas anderes. In einem der zentralen Clips laufen russische Soldaten nicht ins Stadtzentrum, sondern Richtung Stadtrand. Weg aus Kupjansk, nicht hinein. Genau diese Szene wurde als „Beweis“ für Kontrolle verkauft. Die Aufnahmen stammen aus einem Wohngebiet nahe eines Fernsehturms, eindeutig identifizierbar durch Gebäude, die auch in älteren Drohnenvideos aus dem Jahr 2020 zu sehen sind. Geolokalisierung bestätigt: Die Soldaten bewegen sich zur Ausfallstraße, vorbei an den letzten Häusern, kurz vor dem offenen Gelände. Ein Rückzug aus dem inneren Stadtgebiet.

Eine Gruppe russischer Soldaten bewegt sich in Kupjansk in Richtung Stadtausfahrt, Dezember 2025 Die Bilder zeigen russische Soldaten in Kupjansk, der Teil stimmt, aber nicht bei der Einnahme der Stadt, sondern beim Abzug in Richtung Stadtrand.

Satirisch könnte man sagen, die Soldaten nutzen hier den „Ausgang aus der Stadt“ als Nachweis für Kontrolle über die Stadt. Mehr Ironie braucht es kaum. Kontrolle wird behauptet, während das Bildmaterial das Gegenteil zeigt. Trotzdem wiederholten Moskaus Führung und Militär die Behauptung mehrfach. Generalstabschef Gerassimow meldete Kupjansk bereits im November als erobert, Verteidigungsminister Beloussow erneut im Dezember. Dazwischen veröffentlichte Wolodymyr Selenskyj ein Video am westlichen Stadteingang von Kupjansk. Ukrainische Präsenz, offen dokumentiert.

Kein seriöser Analyst bestätigt eine Einnahme der Stadt. Russische Truppen operieren auf beiden Seiten des Oskil-Flusses, ja. Aber Kupjansk unter Kontrolle zu haben und Kupjansk zu erreichen, sind zwei verschiedene Dinge. Was bleibt, ist ein altbekanntes Muster, das wir auch von Trump und FOX-News kennen: Bilder werden genutzt, Aussagen verstärkt, Realität ersetzt. Nur diesmal zeigt das Material selbst, wie brüchig diese Erzählung ist.

Parallel dazu verschärft Putin den Ton militärisch. Bei einem Treffen mit seinen Generälen erklärt er, russische Truppen stünden nur wenige Kilometer vor der Stadt Saporischschja. Die Offensive solle fortgesetzt werden, die Stadt „in naher Zukunft“ eingenommen werden. Während also von Frieden gesprochen wird, laufen Vorbereitungen für weitere Angriffe. Selenskyj spricht offen aus, was hier passiert: Russland versuche, zusätzliche Angriffe, auch auf Kiew, zu rechtfertigen und zugleich seine eigene Weigerung, den Krieg zu beenden, zu kaschieren.

Waldai-Anwesen

Auch der zeitliche Zusammenhang ist auffällig. Die Geschichte taucht genau einen Tag nach Selenskyjs Treffen mit Trump in Florida auf. Dort hatten beide Seiten betont, die Gespräche seien konstruktiv gewesen. Selenskyj erklärte, die USA böten Sicherheitsgarantien für 15 Jahre an, mit Verlängerungsoption. Ein Durchbruch wurde zwar nicht erzielt, aber Bewegung signalisiert. Und genau in diesem Moment liefert Moskau eine Erzählung, die es erlaubt, alles wieder in Frage zu stellen. Nicht wegen eigener Forderungen, sondern wegen angeblicher ukrainischer Provokation.

Trump selbst trägt zur Unschärfe bei. Er sagt, es sei „nicht der richtige Zeitpunkt“, jemandes Haus anzugreifen. Er spricht davon, dass er den Verkauf von Tomahawk-Marschflugkörpern an die Ukraine blockiert habe, um solche Eskalationen zu verhindern. Auf die Frage, ob US-Geheimdienste Beweise hätten, antwortet er: „Wir werden es herausfinden.“ Ein Präsident, der auf Verdacht reagiert, während er zugleich eingesteht, nichts zu wissen, liefert damit unfreiwillig die Vorlage für genau das, was hier geschieht: Politik auf Basis von Behauptung.

Hinzu kommt die Erinnerung an frühere Vorfälle. Bereits im Mai 2023 explodierten zwei Drohnen über dem Kreml. Russland sprach damals von einem Attentatsversuch. Die Ukraine bestritt jede Beteiligung. US-Stellen erklärten später, es sei wahrscheinlich eine Operation ukrainischer Spezialkräfte gewesen. Der Unterschied zu heute ist entscheidend: Damals gab es Bilder, Explosionen, sichtbare Spuren. Heute gibt es nur Worte. Und trotzdem wird die Geschichte genutzt, um Verhandlungen zu belasten. Dass Russland dabei keinerlei Scham zeigt, ist Teil des Problems. Wer 91 Drohnen erfindet, ohne einen einzigen Beleg vorzulegen, wer Zahlen variiert, Ziele offenlässt und dennoch politische Konsequenzen fordert, setzt nicht auf Glaubwürdigkeit, sondern auf Wirkung. Es geht nicht darum, überzeugt zu werden, sondern darum, Zweifel zu säen und Zeit zu gewinnen. Zeit für neue Angriffe. Zeit für neue Forderungen. Zeit, um den Krieg weiterzuführen und gleichzeitig zu behaupten, man sei eigentlich zu Frieden bereit.

Am Ende bleibt ein Bewertung, der nüchtern ist und gerade deshalb schwer wiegt. Es gibt keine Bestätigung für einen ukrainischen Drohnenangriff auf Putins Residenz. Keine durch Geheimdienste, keine durch unabhängige Beobachter, keine durch überprüfbare Daten, keinen durch Netzwerke, die wir sehr gut kennen. Was es gibt, ist ein politisches Interesse Russlands, den Druck zu erhöhen, und ein US-Präsident, der bereit ist, eine unbelegte Erzählung öffentlich weiterzutragen. Vielleicht war es ein Angriff. Vielleicht auch nicht. Derzeit spricht alles für Letzteres. Und vielleicht hat Putin tatsächlich einfach vergessen, den Grill auszumachen. Das wäre zumindest die erste Erklärung all dieser Geschichten.

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Esther Portmann
Esther Portmann
7 Stunden zuvor

Kopfschütteln reicht nicht.
Für was gibt es die Vereinten Nationen noch? Es gibt keine Reaktion, wenn doch etwas gesagt wird, nützt es nichts.

Marlene Schreiber
Marlene Schreiber
7 Stunden zuvor

Toller Bericht, mit vielen Fakten, die mir nicht bekannt waren.

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