„Freie Sachsen und Helmut Strauf“ rufen – und wissen nicht, wovon sie sprechen – Geschichten aus dem braunen Morgenland

VonRainer Hofmann

Dezember 30, 2025

Montagabend in Bautzen. Wieder ziehen hunderte Menschen durch die Straßen, feiern sich selbst als Widerstand, als Freiheitsbewegung, Friedensstifter, als angebliche Erben einer unterdrückten Geschichte. „Freies Sachsen“ skandiert sich selbst, flankiert von AfD-Kameraden, Christian Abel ebenfalls AFD ist komplett aus dem braunen Häuschen, angeheizt von Telegram-Parolen, dümmliche Plakate mit „Unser Land zuerst“. Wer hier genau hinhört, merkt schnell: Der Begriff Freiheit wird benutzt, aber nicht verstanden. Vor allem dann nicht, wenn er mit der eigenen Geschichte kollidiert. Denn in Sachsen, wie in der gesamten Deutsche Demokratische Republik, war Demonstrieren jahrzehntelang kein Grundrecht, sondern ein Risiko. Die Verfassungen von 1968 und 1974 versprachen Meinungs- und Versammlungsfreiheit nur auf dem Papier. In der Realität galt dieses Recht ausschließlich, solange es den Zielen der sozialistischen Ordnung diente. Kritik am Staat, an der Partei, an wirtschaftlichen Zuständen oder politischen Entscheidungen war ausgeschlossen. Wer widersprach, stellte sich automatisch gegen die Macht der SED.

Öffentliche Versammlungen mussten genehmigt werden. Genehmigt wurden sie nur dann, wenn sie staatlich organisiert oder eindeutig loyal waren: Maidemonstrationen, FDJ-Aufmärsche, ritualisierte Masseninszenierungen. Jede nicht genehmigte Ansammlung mit politischem Inhalt galt als feindlich. Schon wenige Menschen mit Transparenten konnten als politische Aktion eingestuft werden. Gewalt war nicht nötig. Meinung reichte. Rechtlich bewegte sich jeder Protest fast zwangsläufig im Bereich einer Straftat. Zentral war §106 des Strafgesetzbuches der DDR, die sogenannte staatsfeindliche Hetze. Er stellte jede öffentliche Kritik an der staatlichen Ordnung unter Strafe. Flugblätter, Sprechchöre, kurze Redebeiträge genügten. Das Strafmaß reichte bis zu fünf Jahren Haft. In Sachsen wurde dieser Paragraph regelmäßig angewandt.

Hinzu kam §220, die öffentliche Herabwürdigung. Er war noch niedriger angesetzt. Nicht einmal offene Systemkritik war erforderlich. Ironie, Spott, Andeutungen konnten reichen, um ins Visier zu geraten. Gerade bei kleineren Protesten, Mahnwachen oder kirchlichen Aktionen wurde dieser Paragraph häufig genutzt. Wer öffentlich etwas sagte, das als respektlos gegenüber Partei, Polizei oder staatlichen Organisationen gedeutet werden konnte, riskierte Anzeige. Für Demonstrationen selbst war §214 entscheidend, die sogenannte ungesetzliche Zusammenrottung. Strafbar war bereits die Beteiligung an einer Menschenansammlung, die angeblich die öffentliche Ordnung gefährdete. Gewalt spielte keine Rolle. Allein das gemeinsame Auftreten im öffentlichen Raum reichte aus. Dieser Paragraph wurde in Sachsen systematisch genutzt, um Proteste aufzulösen und Teilnehmende festzunehmen, besonders in Leipzig, Dresden und Karl-Marx-Stadt.

Zusätzlich griff §219, die ungesetzliche Verbindungsaufnahme. Wer Kontakt zu westlichen Medien hatte, Informationen weitergab oder ausländische Journalisten informierte, machte sich strafbar. Viele sächsische Aktivisten wurden nach Demonstrationen noch mit diesem Vorwurf konfrontiert, selbst wenn die eigentliche Aktion längst beendet war. Über all dem stand die Praxis von Volkspolizei und Staatssicherheit. Festnahmen ohne Haftbefehl, stunden- oder tagelange Zuführungen, Einschüchterungsverhöre, Druck auf Arbeitgeber, Schulverweise, Reisebeschränkungen, Ausreiseandrohungen. Vieles geschah unterhalb eines Gerichtsverfahrens, war aber für die Betroffenen existenziell. Ein Protest bedeutete Akte, Vermerk, Beobachtung. Freiheit hatte Konsequenzen.

Regional unterschied sich die Härte, nicht der Grundsatz. Leipzig war schon vor 1989 ein Zentrum oppositioneller Aktivitäten, deshalb wurden Versammlungen rund um Kirchen besonders streng verfolgt. Dresden galt wegen Grenznähe und politischer Sensibilität als Hochrisikoraum, viele Festgenommene landeten in der Untersuchungshaftanstalt an der Bautzner Straße. In Karl-Marx-Stadt hatte jeder Protest besondere Symbolkraft, weil er das Selbstbild des Arbeiter- und Bauernstaates traf. Unterm Strich ist die Bilanz eindeutig: Demonstrieren war in der DDR, auch und gerade in Sachsen, faktisch eine Straftat. Nicht jede Teilnahme endete im Gefängnis, aber jede war ein Sicherheitsvorgang, ein Risiko für Freiheit, Beruf und soziale Existenz. Die rechtlichen Grundlagen waren klar benannt: §106, §214, §220 und §219 des DDR-Strafgesetzbuches, ergänzt durch eine Praxis, die Meinungsfreiheit systematisch unterband.

Vor diesem Hintergrund wirken die heutigen Rufe nach einem „freien Sachsen“ hohl und gradezu lächerlich. Wer heute unbehelligt montags demonstriert, , von Kameras gefilmt und von demokratiefeindlichen Politikern wie dem AFD-Mann Abel umworben wird, lebt nicht unter Unterdrückung. Er lebt in einem Land, das genau jene Freiheit garantiert, die damals fehlte. Wer das ernsthaft gleichsetzt oder gar umdreht, instrumentalisiert Geschichte. Und zeigt vor allem eines: Sie haben aber rein gar nichts gelernt.

Noch ein gut gemeinter Tipp:
Zieht doch nach Amerika. Dort wird Meinungsfreiheit bekanntlich besonders hochgehalten – so hoch, dass man sie am besten gleich im Gewahrsam der Immigration and Customs Enforcement erlebt. Wenn dann Fragen auftauchen, bitte nicht an uns wenden, nicht über Los gehen, kein Gespräch, kein Rechtsbeistand. Direkt in die ICE-Haft. Dort kann man die Blumen der Freiheit aus nächster Nähe bestaunen. Gitter, Neonlicht, Beton. So fühlt sich das also an, siehe unsere investigative Recherche mit teils versteckter Kamera, wenn man Menschen entrechtet – ganz legal, ganz ordentlich, ganz im Namen eurer Werte.

Aber wenn man glaubt da laufen nicht noch mehr frei herum, dann kommen wir einmal zu Strauf, Helmut Strauf, oder wenn ein Polit-Profi seine jahrenlange Erfahrung mit uns allen teilt

Es ist ein historischer Moment im deutschen Journalismus. Der Deutschland Kurier, jene Medienplattform, die das Qualitätsniveau zwischen rechtem Parkplatz-Flugblatt und Bierdeckel-Notiz perfektioniert hat, präsentiert stolz: Helmut Strauf, 20 Jahre alt, Bundesvorstand der Generation Deutschland. Ein Junge mit der Lebenserfahrung von hundert Jahren. Mindestens. Vielleicht auch hundertzwanzig, wenn man die Playstation-Stunden hochrechnet. Helmut sitzt im Studio. Das Hemd gebügelt. Die Frisur so akkurat gescheitelt, dass selbst der Führer aus dem Jenseits WhatsApp-Sprachnachrichten schicken würde: „Brudi, respekt, aber ein bisschen weniger Pomade, ja?“ Der Blick entschlossen. Die Augen leer. Aber hey, Hauptsache entschlossen.

„Deutschland ist im Krieg, bereit für den Kampf“, verkündet Helmut mit der Autorität eines Mannes, der bestimmt schon drei Kinder großgezogen hat. Wahrscheinlich in Sims 4. „Wir müssen unser Land verteidigen!“ Die Interviewerin bekommt große Augen. Begeistert. Ergriffen. Als hätte Helmut gerade das Rätsel um die dunkle Materie gelöst, als hätte er sich beim Reden selbst überrascht, dass noch Geräusche kommen.

Helmut gehört zur Generation Deutschland, selbstbewusst getauft, stylisch verpackt, inhaltlich leer wie eine Pfandflasche nach der Rückgabe. „Der Kampf um unser Land“ ist ihr Motto. Letzte Woche noch hat Helmut mit Mami um längeren Ausgang gekämpft. Verloren. Aber jetzt? Jetzt will er die große Politik machen. Jeden Morgen steht er vor dem Spiegel. Übung macht den Meister. „Blablabla… Remigration… blablabla… unsere Kultur…“ Nicken. Handbewegung. Noch mal nicken. Perfekt. Weitermachen.

„Und ganz wichtig“, sagt Helmut, als hätte er gerade das Geheimnis des Ballsaals von Trump entdeckt, „junge Menschen wollen Gemeinschaft!“ Ja. Dagegen ist nichts zu sagen. Absolut nichts. „Aber sie wollen die gleiche Sprache, die gleiche Kultur, ein gemeinsames Erbe!“ He? Moment mal. Als ich jung war, wollte ich einfach nur den Ball ins Tor schießen. Ali und Sandy waren dabei. Wir haben geschwommen. Niemand hat über „kleinste gemeinsame Nenner“ gesprochen. Niemand! Was habe ich nur falsch gemacht? Hätte ich nur gewusst, dass Integration bedeutet, vorher die ethnische Zusammensetzung der Badegruppe zu analysieren!

„Millionenfache Remigration“, sagt Helmut jetzt. Stolz. Als wäre das eine App mit Massageeffekt. Das Traumland: Nur noch weiße Menschen im Sozialamt. Ohne Ausländer geht das Land bankrott, aber das weiß der Helmut nicht.“ Remigration – und hier leuchten seine Augen auf wie bei einem Kind vor dem Reichsbaum . Wow. WOW. Das ist… das ist Vision! Das ist Politik! Das ist… komplett bescheuert Helmut, aber Du kapierst nichts mehr.

Mathelehrer 007

Linke Spinner tarnen sich als Lehrer. Das weiss der Deutlandkurier. Geheiminformationen direkt von Putin. Jetzt wird es spannend. Denn Helmut hat einen Insider-Tipp: „Linke Spinner tarnen sich als Lehrer!“ Was? ALLE Lehrer? Auch der Mathelehrer? Steht „M“ für Mathe? Der Englischlehrer? James Bond nur Fiktion? Ich muss das wissen! Ich muss meine Feinde kennen! Sitzt da etwa Frau Müller von der Grundschule mit Che-Guevara-Shirt hinter dem Pult und indoktriniert Viertklässler mit Bruchrechnung und Einschränkung von Meinungsfreiheit? „Wollen die unsere Kinder umerziehen!“, bitte Helmut, sag es mir. …. Kommt doch nichts.

Aber auch hier haben wir natürlich einen Tipp: Ok, ein wenig Remigration steckt da auch drin, aber zieht diesen kaputten Typ vom Stuhl runter. Schickt ihn zurück in den Kindergarten und seine Zirkustruppe gleich mit. Lasst ihn noch ein paar Jahre Sandburgen aus weißen Sand bauen. Vielleicht, ja ganz vielleicht, wird aus ihm noch etwas. Ein Mensch mit Empathie. Mit Verstand. Mit mehr Lebenserfahrung als ein durchschnittlicher Labrador. Bis dahin: Helmut Strauf, 20, Generation Deutschland, Verteidiger des Abendlandes, hat gesprochen. Und wir? Wir schalten den Laptop aus, schütteln ungläubig den Kopf und gehen zurück zu dem, was wir immer getan haben: Mit Ali und Sandy schwimmen gehen. Weil DAS echte Gemeinschaft ist.

PS: Helmut, wenn du das liest: Mami hat angerufen. Du sollst um neun zu Hause sein.

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Marlene Schreiber
Marlene Schreiber
8 Stunden zuvor

Wunderbar geschrieben. Ich mußte zwischendurch laut lachen. Weiter so und danke für diese Aufhellung meines Tages.

Lea
Lea
4 Stunden zuvor

Humor ist, wenn man trotzdem lacht – und mir bleibt das Lachen teils im Hals stecken, weil es so bitterernst ist.

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