Green-Card-Termine werden zur Falle – wir kommen kaum noch hinterher, wie Militärfamilien auseinandergerissen werden

VonRainer Hofmann

November 27, 2025

In den vergangenen Wochen passiert in den USA etwas, das es so seit Jahrzehnten nicht gab – und viele trifft es völlig unvorbereitet. Menschen erscheinen zu ihrem Green-Card-Interview, um ihren Aufenthaltsstatus zu regeln, und werden direkt danach festgenommen. Nicht an einer Grenze, nicht bei einer Razzia, nicht beim Versuch, sich zu entziehen, sondern mitten im offiziellen Termin, zu dem sie sich ordnungsgemäß eingefunden haben.

Bei uns landen täglich neue Fälle aus mehreren Bundesstaaten auf dem Tisch. Paare gehen gemeinsam zur Behörde, oft mit kleinen Kindern an der Hand, und kommen nicht mehr gemeinsam heraus. Die Begründungen klingen, als hätte jemand das Gesetz auf den kleinsten gemeinsamen Nenner reduziert: ein überzogenes Visum, manchmal seit Jahren abgelaufen, ansonsten nichts. Keine Vorstrafen, keine Gefahr für irgendjemanden, kein Betrug. Es trifft Menschen, die regulär eingereist sind – mit Touristen-, Besucher- oder Studentenvisa – und denen man nun zum Vorwurf macht, dass sie ihren Antrag in einer Zeit stellen, in der die USA offenbar nicht mehr danach fragen, wie jemand lebt, sondern nur noch, wie leicht man ihn greifen kann.

Was früher ein nüchterner Verwaltungstermin war, ist heute ein Risiko. ICE sitzt in USCIS-Gebäuden, teilweise im selben Flur wie die Familien, und wartet den Moment ab, in dem eine Tür aufgeht und ein Name aufgerufen wird. Dass das Gesetz Festnahmen erlaubt, war schon immer so. Aber über Jahrzehnte galt eine einfache, zivilisierte Grenze: Menschen, die ihren Status freiwillig klären und sich auf das Verfahren einlassen, werden nicht an genau diesem Ort zu „Fällen“ gemacht. Diese Grenze ist unter Trump still abgeschafft worden, ohne Ansage, ohne öffentliche Debatte.

Ich bin nach Delaney Hall gefahren, demselben Abschiebezentrum, in dem auch der Bürgermeister von Newark festgenommen wurde, um meinen Stiefvater zu besuchen. Es ist absolut irre, wie unklar die Informationen sind, wie das Sicherheitspersonal einen behandelt und wie extrem knapp das Besuchsfenster für die Inhaftierten ist.

Besonders brutal zeigt sich das gerade in San Diego. Innerhalb von zwei Wochen ist dort eine ganze Reihe von Fällen bekannt geworden, in denen ausgerechnet Militärfamilien getroffen wurden – Menschen, deren Alltag aus Einsätzen, Versetzungen, Beerdigungen, Heimkehr und Neuaufbau besteht und die jetzt erleben, dass der Staat, dem sie gedient haben, ihre Ehepartner abführen lässt, während sie neben ihnen sitzen.

Samuel Shasteen, früher Staff Sergeant im Marine Corps, hat 20 Jahre Dienst hinter sich, darunter zwei Afghanistan-Einsätze. Seine Dienstzeit, seine Auszeichnungen, seine Einsätze – alles liegt in Kopie in den Unterlagen, die er bei der Einwanderungsbehörde abgegeben hat. Seine erste Frau starb 2022 an Krebs. Später lernte er Chanidaphon Sopimpa aus Thailand kennen; sie, sagt er, habe die Leere gefüllt, die dieser Verlust hinterlassen hatte. Die beiden heiraten, sie überzieht ihr Visum, und wie unzählige andere Paare entscheiden sie sich für den regulären Weg: Antrag auf Anpassung des Status, Green-Card-Verfahren, Interview am 18. November 2025 bei USCIS, Ende: noch offen

Was dann passiert, beschreibt Shasteen später so: „Ich fühle mich ehrlich gesagt verraten.“ Mitten im Gespräch betreten ICE-Beamte den Raum, legen seiner Frau Handschellen an und führen sie ab. Sie weint, er steht daneben und kann nichts tun. Der Staat, dem er 20 Jahre seines Lebens gegeben hat, nutzt ausgerechnet den Termin, der seine Ehe rechtlich absichern sollte, um seine Frau zu verhaften. Sein Anwalt nennt den Fall „eigentlich unkompliziert“ und erinnert daran, dass es früher eine klare Ausnahme für unmittelbare Angehörige von US-Staatsbürgern gab – insbesondere für Ehepartner von Soldaten und Veteranen.

Der Ehemann steht daneben, als ICE seine Frau beim Termin festnimmt.
Und eines zeigt sich in solchen Momenten deutlich: Wenn ein Staat aufhört, Mitgefühl zu zeigen und Menschen in schwierigen Situationen nicht mehr sieht, verliert er genau das, was ihn einmal menschlich gemacht hat.

Nur wenige Tage zuvor trifft es eine andere Familie. Ein Navy-Veteran kommt mit seiner Frau, einer Australierin, zum Interview. Keine Vorstrafen, keine sonstigen Auffälligkeiten. Auch sie wird nach dem Gespräch von ICE abgeführt. Ihr Anwalt, William Menard, sagt, er habe in mehr als zehn Jahren noch nie erlebt, dass bei solchen Interviews Festnahmen durchgeführt werden. Acht Tage bleibt die Frau in Bundeshaft. Erst ein Einwanderungsrichter setzt eine Kaution fest und sorgt dafür, dass sie vorläufig freikommt. Menard fragt öffentlich, wem diese acht Tage überhaupt genutzt haben sollen. Eine Antwort gibt es nicht.

Im selben Gebäude erleben wir, wie der aktive Navy-Angehörige Thomas McCarthy, das Gleiche. Er begleitet seine Frau Jessica zum Termin, beide sind überzeugt, „das Richtige“ zu tun, wie er später sagt. Doch statt einer Entscheidung über die Green Card kommt eine Inhaftierungsverfügung. Jessica wird abgeführt, McCarthy steht mit Papieren in der Hand da und muss begreifen, dass ihr Versuch, alles korrekt zu regeln, genau in diesen Momenten gegen sie verwendet wird.

Fast alle dieser Menschen landen im Otay Mesa Detention Center, einem privaten Abschiebegefängnis an der Grenze zu Mexiko. Wir mussten in Recherchen und Fällen feststellen, das nach der Festnahme eine Visitenkarte mit QR-Code versendet wurde und den Hinweis, dort nachzusehen, wie es weitergeht. Shasteen nennt das „Propaganda“ – ein Versuch, die Situation mit einem Stück Plastik und etwas Image-Sprache zu verkaufen. Sein Sohn, der schon einmal den Verlust einer Mutter erlebt hat, hält es zu Hause kaum aus; er meidet den Ort, der ihn an diesen Schmerz erinnert.

Anwältinnen und Anwälte, die seit Jahren Green-Card-Verfahren begleiten, sprechen davon, dass hier eine bisher nicht gekannte Linie überschritten wurde. Bis vor Kurzem galt: Wer mit einem US-Staatsbürger verheiratet ist, keine Straftaten begangen hat und sich einem regulären Verfahren stellt, hat gute Chancen, dass der Staat diesen Schritt respektiert. Gerade für Militärfamilien war das lange ein stilles Versprechen – ein Minimum an Sicherheit für Menschen, die ihr Leben auf den Dienst an diesem Staat zugeschnitten haben. Jetzt erleben wir, dass genau dieses Vertrauen ihnen zum Nachteil gereicht, wir mit den Fällen kaum noch nachkommen.

In Minnesota haben sich Menschen zu einer Menschenkette formiert, um ICE-Beamte daran zu hindern, eine Festnahme durchzuführen.

ICE bleibt bei seiner standardisierten Antwort: Ein überzogenes Visum sei ein Verstoß gegen Bundesrecht, jede Person könne überall festgenommen werden, auch in den Büros von USCIS. Juristisch mag das richtig sein. Politisch und menschlich erklärt es gar nichts. Es erklärt nicht, warum man ausgerechnet diejenigen ins Visier nimmt, die sich freiwillig stellen – und: Oftmals sind Anträge einfach liegengeblieben, teilweise über 18 Monate. Es erklärt nicht, warum man Menschen in Handschellen abführt, deren ganzes „Vergehen“ darin besteht, den falschen Stempel im Pass zu haben, oder persönlich daran erinnern, dass ihr Antrag noch nicht einmal bearbeitet wurde. Und es erklärt nicht, warum dieser Kurs genau zu dem Zeitpunkt verschärft wird, an dem die Regierung sich nach außen als Verteidiger von Familie und Ordnung inszeniert.

Die Entwicklung ist gefährlich, weil sie blitzartig kam und weil sie das Verhältnis zwischen Bürgern und Staat an einer Stelle trifft, an der Vertrauen eigentlich unverzichtbar wäre. Wer monatelang Unterlagen zusammensucht, hohe Gebühren bezahlt, medizinische Untersuchungen über sich ergehen lässt und sich durch die Formulare der Einwanderungsbehörde kämpft, geht davon aus, dass dieses System auf Berechenbarkeit basiert. Stattdessen werden Paare, die diesem System vertrauen, in Situationen gebracht, in denen sie jede Kontrolle verlieren. Manche verschieben ihre Termine aus Angst, andere erscheinen trotzdem, weil sie glauben, dass Weglaufen alles nur noch schlimmer macht.

Die Frage, die im Raum steht, ist schlicht und lässt sich nicht in höfliche Formeln verpacken: Geht es hier wirklich darum, Einwanderungsrecht durchzusetzen – oder darum, ein Klima zu erzeugen, in dem Menschen eingeschüchtert werden, bevor sie überhaupt eine Entscheidung bekommen? Soll geprüft werden, wie weit man in das Leben ganz normaler Familien eingreifen kann, ohne dass es politischen Widerstand gibt? Oder ist das, was wir gerade sehen, schon die neue Routine, die still über das Land gelegt wird?

Klar ist: Eine Regierung, die bei jeder Gelegenheit „Familienwerte“ beschwört, kann nicht gleichzeitig zulassen, dass Familien auseinandergerissen werden, obwohl kein einziges Verbrechen im Raum steht. Menschen, die dem Staat vertrauen und den legalen Weg gehen, dürfen nicht diejenigen sein, auf deren Rücken Härte demonstriert wird. Doch genau das geschieht im Moment – zuerst sichtbar in San Diego, inzwischen in mehreren Bundesstaaten. Wir bearbeiten solche Fälle, wir unterstützen und helfen den Betroffenen, wir prüfen, was in den Akten steht, ob es überhaupt Akten gibt und wir halten fest, wie sehr diese Entscheidungen das Leben der Menschen beschädigen. Wir prüfen ihre Unterlagen, klären Abläufe, vermitteln Kontakte und begleiten die Verfahren, damit sie nicht allein durch diese Behördenpraxis müssen. Gerade jetzt, kurz vor Weihnachten, türmen sich die Fälle – und wir arbeiten jeden Fall, wie auch die reinen Migranten-Abschiebefälle, so schnell wie möglich durch, damit vielleicht manches Weihnachtsfest doch noch ein Happy End findet.

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Irene Monreal
Irene Monreal
12 Stunden zuvor

Es muss einem wirklich an die Nieren gehen, in solche menschlichen Katastrophen involviert zu sein. Danke für euren Einsatz!
Für Trump und seine Verbrecher bedeutet es gar nichts. Hat er nicht in seiner ersten Amtszeit sogar Kinder von den Eltern getrennt und inhaftiert? Es ist eine reine, sadistische Machtdemonstration dieser verdammten Bande. Auch Karolin Leavitt ist es doch völlig egal, dass die Mutter ihres Neffen verhaftet wurde. Das sind tiefe menschliche Abgründe und es wird immer schlimmer, je länger diese Menschenhasser am Ruder sind.

Sibylle
Sibylle
11 Stunden zuvor

Meinen aufrichtigen Dank für die Arbeit, die ihr leistet. Das gibt es nur noch selten, dass Menschen sich für andere Menschen einsetzen. Dazu noch diesen tollen Blog. Großartig.

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