Ein Anschlag im Herzen Washingtons – und ein Präsident, der das Feuer schürt

VonRainer Hofmann

November 27, 2025

Washington war am Mittwochnachmittag voller Menschen, die sich auf das lange Thanksgiving-Wochenende vorbereiteten, als plötzlich Sirenen über die Straßen jagten, Rettungswagen quer durch gestoppte Kolonnen fuhren und ein Polizeihubschrauber über der National Mall kreiste. Nur wenige Minuten zuvor waren zwei Mitglieder der Nationalgarde aus West Virginia, die seit August im Auftrag des Präsidenten in der Hauptstadt patrouillieren, wenige Blocks vom Weißen Haus entfernt niedergeschossen worden. Alles geschah mitten in einem touristisch dicht besuchten Abschnitt nahe der Farragut-West-Station, dort, wo Uniformierte seit Monaten im Auftrag der Regierung Wache stehen. Was später als ein gezielter Angriff beschrieben wurde, traf die ohnehin überreizte Atmosphäre in Washington wie ein Blitzschlag.

Der Ablauf der Ereignisse war schnell, brutal und für jene, die ihn erlebten, kaum zu fassen. Nach Angaben der Polizei kam der Schütze, Rahmanullah Lakanwal aus einer Seitenstraße, hob sofort seine Waffe und eröffnete das Feuer auf die beiden Soldaten. Nach ersten Erkenntnissen handelte es sich um einen Einzeltäter. Mindestens einer der Soldaten erwiderte das Feuer, bevor Kollegen aus der Umgebung und Beamte von Polizeidienststellen, dem Secret Service und der Metro Transit Police den Angreifer überwältigten. Der Täter selbst wurde angeschossen und überlebte, lebensgefährlich verletzt waren andere. Die beiden Guardsmen lagen blutend auf dem Bürgersteig, als Ersthelfer versuchten, sie zu stabilisieren. Ein Hubschrauber landete direkt auf der National Mall, nur wenige Hundert Meter vom Ort des Anschlags entfernt.

Beide Soldaten wurden schwer verletzt

In den ersten Mitteilungen aus West Virginia hieß es sogar, die beiden Soldaten seien gestorben. Der Gouverneur veröffentlichte einen entsprechenden Post auf X – und ruderte zwanzig Minuten später zurück, mit der Erklärung, man erhalte „widersprüchliche Berichte“. Der Schaden war dennoch angerichtet. Aufgebrachte Kommentare, Spekulationen, Falschmeldungen: alles schoss sofort durch die Netzwerke. Später bestätigten Bürgermeisterin Muriel Bowser und FBI-Direktor Kash Patel öffentlich, dass beide Soldaten noch lebten, aber in kritischem Zustand lägen.

Die schwerverletzen Soldaten werden per Hubschrauber in das Krankenhaus geflogen

Die Debatte, die sich anschloss, wäre auch ohne dieses Durcheinander heftig gewesen. Denn dieser Anschlag traf Washington in einer Phase, in der die Nationalgarde selbst zum politischen Streitfall geworden ist. Trump hatte im August die örtliche Polizei unter Bundeskommando gestellt, den Notstand ausgerufen und Truppenkontingente aus acht Bundesstaaten in die Hauptstadt geholt. Der Schritt war rechtlich umstritten, politisch explosiv und gesellschaftlich ein tiefes Warnsignal. Die Regierung begründete das Vorgehen mit einer angeblich „außer Kontrolle geratenen“ Kriminalität, Gegner sahen darin einen Versuch, die Hauptstadt mit dauerhaft eingesetzten Soldaten unter ein quasi-militärisches Regime zu stellen. Die rechtliche Auseinandersetzung darüber läuft seit Monaten, zuletzt hatte eine Bundesrichterin angeordnet, die Truppen zurückzuziehen, den Vollzug aber für 21 Tage ausgesetzt, um der Regierung Zeit zu geben, zu reagieren oder zu appellieren.

Der Täter, Rahmanullah Lakanwal aus Afghanistan, 29 Jahre alt, wurde ebenfalls verletzt – Er kam 2021 in die USA

Nun also ein Anschlag auf zwei dieser Soldaten – und ein Präsident, der in Florida auf seinem Golfplatz war, als die Schüsse fielen. Innerhalb kurzer Zeit meldete sich Trump auf seinem Portal zu Wort. Er schrieb, der Täter – „das Tier“, wie er ihn nannte – werde „einen sehr hohen Preis zahlen“. Es war genau jene Sprache, mit der Trump immer wieder die Stimmung anheizt, anstatt sie zu beruhigen. Gleichzeitig erklärte er, „Gott segne unsere großartige Nationalgarde“, und versicherte, er stehe „als Präsident und mit allen im Umfeld des Präsidenten“ an ihrer Seite. Minuten später leitete Verteidigungsminister Pete Hegseth die nächste Stufe ein: Auf Trumps Anweisung sollen 500 zusätzliche Soldatinnen und Soldaten in die Hauptstadt geschickt werden. Laut der jüngsten Übersicht befinden sich dort ohnehin schon 2.188 Nationalgardisten im Einsatz.

JD Vance zur Schießerei in Washington, D.C.: „Ich möchte, dass jeder gläubige Mensch ein Gebet für diese beiden Nationalgardisten spricht … es ist eine ernste Erinnerung daran, dass Soldaten … das Schwert und der Schild der Vereinigten Staaten von Amerika sind.“

Für Washington ist dieser Angriff ein Schock, aber keiner ohne Vorgeschichte. Fast beiläufig erinnerten Beobachter an die lange Reihe von Vorfällen, die sich im Umfeld des Weißen Hauses abgespielt haben – manche skurril, manche gefährlich. Ein Fremder, der während des Zweiten Weltkrieges einfach in den Kinosaal marschierte, um mit Franklin D. Roosevelt einen Film zu sehen. Ein Mann im Karateanzug, der 1978 mit einem in der Bibel versteckten Messer eindrang. Ein Pilot, der 1994 mit seinem Kleinflugzeug in den Rasen der Präsidentschaftsresidenz krachte. In den letzten Jahren rasten mehrfach Fahrzeuge in Absperrungen, in einem der jüngsten Fälle gesteuert von einem jungen Mann, der später zugab, er habe den damaligen Präsidenten Biden töten wollen und verehre Hitler. 2020 versammelten sich während der George-Floyd-Proteste Hunderte vor den Toren des Weißen Hauses, warfen Flaschen und Steine, woraufhin der Secret Service den Präsidenten in den Bunker brachte. Und 2014 gelang es einem Mann mit Messer sogar, überraschend tief in das Gebäude vorzudringen. All diese Fälle verblassen nun hinter dem Eindruck der Schüsse auf uniformierte Soldaten, die im Auftrag der Bundesregierung Präsenz zeigen sollten.

Doch so sehr der Angriff auf die beiden Guardsmen die Menschen erschreckt – spätestens als die Bürgermeisterin erklärte, es handle sich um eine gezielte Attacke durch Rahmanullah Lakanwal –, so sehr beleuchtet der Vorfall auch die politische Schieflage, in die das Land geraten ist. Denn die permanente Präsenz der Garde war nicht Konsens, sondern Ausdruck eines tiefen Konflikts. Seit Monaten patrouillieren Soldaten durch Bahnhöfe, an Straßenecken, an Touristen-Hotspots. Sie stehen an Checkpoints, kontrollieren Verkehrsknotenpunkte, räumen Müll, sichern Sportereignisse. Es ist ein Bild, das viele in Washington nie für möglich gehalten hätten: Soldaten aus West Virginia, Tennessee, Arizona oder den Dakotas in den Metrostationen der Hauptstadt, Tag für Tag, Woche für Woche. Die Einsatzdauer verlängerte sich über das ursprüngliche Mandat hinaus, als Anfang November rund 160 Mitglieder der West-Virginia-Einheit freiwillig ihren Aufenthalt bis Jahresende ausdehnten, während der Rest nach Hause zurückkehrte.

Je länger die Truppen blieben, desto härter wurden die politischen Fronten. Der Justizminister des Districts, Brian Schwalb, klagte die Bundesregierung, weil er die anhaltende Stationierung für verfassungswidrig hielt. Immer wieder kritisierte er, dass die Hauptstadt nicht zum ständigen Einsatzgebiet der Nationalgarde werde dürfe. Nach dem Anschlag erklärte er, Gewalt müsse „schnell und klar verurteilt werden“, und bezeichnete das Vorgefallene als „herzzerreißend für die Stadt und das ganze Land“. Er betonte, die Guard-Mitglieder seien Freiwillige, Menschen mit Berufen, Familien, Alltag – keine Soldaten, die für jahrelange Inlandseinsätze vorgesehen sind.

Die Spurensicherung verlief bis in den Abend rein

Andere äußerten sich ähnlich. Senatoren verschiedener Parteien drückten ihr Entsetzen aus, manche baten um Gebete, andere nutzten die Situation, um die Arbeit der Garde hervorzuheben. Mike Johnson, der Sprecher des Repräsentantenhauses, lobte die „heldenhafte Arbeit“ der Truppen, die „rund um die Uhr“ im Einsatz seien, um die Hauptstadt sicher zu machen. Senator Markwayne Mullin aus Oklahoma erklärte, die Gesellschaft ernte die Folgen, wenn man „Sicherheitskräfte dämonisiere“, während sein Kollege Mark Kelly aus Arizona daran erinnerte, dass die Familien dieser jungen Männer nun in banger Ungewissheit seien, während sie eigentlich den Feiertag vorbereiten wollten.

Mitarbeiter des Strafvollzugsministeriums treffen im George-Washington-University-Hospital ein, um Rahmanullah Lakanwal in Gewahrsam zu nehmen.

All das geschah, während in der Hauptstadt selbst die Spuren des Angriffs noch sichtbar waren: Polizeiabsperrungen, Glassplitter, hektisches Treiben von Ermittlern aus verschiedenen Behörden. Der Secret Service, ATF, FBI, lokale Polizei, Metro Transit Police – sie alle waren vor Ort. Viele von ihnen überprüften Überwachungsvideos aus der Gegend, befragten Zeugen, darunter eine Krankenschwester, die zwei Schüsse gehört hatte und später erzählte, sie habe zum ersten Mal in ihrem Leben Angst gehabt, so nah an einem Tatort zu stehen. Von einer „atmosphärischen Störung“ sprach niemand offen, doch zwischen den Zeilen spürte man, wie sich Politik, Stadtleben und Sicherheitslage in einer Art gefährlichem Gleichschritt bewegen, den Washington lange kannte, aber in dieser Form selten erlebte.

In Bruchteil von Sekunden wurden den schwerverletzten Beamten medizinisch geholfen

Am Abend, als die Behörden ihre ersten gesicherten Erkenntnisse zusammengetragen hatten, herrschte kaum Klarheit über die Motive von Rahmanullah Lakanwal. Ermittler durchsuchten seine Verbindungen, fragten nach Hintergründen, überprüften, ob der Angriff politisch motiviert war oder sich gegen Soldaten als Repräsentanten des Staates richtete. Man wusste nur: Rahmanullah Lakanwal näherte sich den beiden Guardsmen gezielt. Er hob die Waffe, bevor jemand reagieren konnte. Das reichte, um nicht nur die Stadt, sondern das Land zu verunsichern.

Rahmanullah Lakanwal

In dieser aufgeheizten Lage entschied Trump, noch einmal militärisch nachzulegen. Die Anweisung, 500 weitere Nationalgardisten zu entsenden, wirkt wie ein Reflex auf Gewalt – nicht nach dem Muster von Entspannung, sondern als Signal, dass seine Regierung unbeirrt an der Linie festhält, Washington zur Bühne eines sicherheitspolitischen Dauereinsatzes zu machen. Verteidigungsminister Hegseth übermittelte die Entscheidung aus der Dominikanischen Republik, wo er sich gerade befand. Es zeigt, wie selbstverständlich die militärische Präsenz für die Trump-Regierung geworden ist, egal, ob die Juristen im Hintergrund bereits an einer möglichen Aufhebung arbeiten.

Die politische Aufladung dieses Einsatzes ist enorm. Seit dem Sommer, als Trump erstmals die örtliche Polizei unter seine Kontrolle zog, wird darüber gestritten, ob der Präsident damit eine historische Grenze überschritten hat. Nie zuvor hatte ein Präsident gegen den Willen einer Landesregierung deren Nationalgarde auf den eigenen Straßen eingesetzt – und genau das tat Trump wenig später in Kalifornien. In Washington war das Vorgehen graduell anders, aber rechtlich kaum weniger heikel. Die Hauptstadt besitzt Sonderstatus, doch auch sie verfügt über eigene, klar definierte Kompetenzen. Dass die Bundesregierung sie mit uniformierten Truppen überschwemmt, die Aufgaben vom Patrouillieren bis zur Müllentsorgung übernehmen, erscheint vielen wie ein Abgleiten in eine neue Form staatlicher Kontrolle.

Der Anschlag verstärkt diese Diskussion nur weiter. Wo einige die Verstärkung der Präsenz als notwendige Reaktion sehen, warnen andere davor, dass noch mehr Soldaten den Druck erhöhen und die Stadt weiter militarisieren könnten. Ein tragisches Ereignis wird dadurch zum politischen Katalysator. Spät am Abend kehrte eine angespannte Ruhe ein. Die Straßen waren nicht leer, doch sie wirkten wie ausgeatmet. Um die Farragut-West-Station standen weiterhin Soldaten, die in ihren Uniformen plötzlich verletzlich wirkten. Hinter ihnen flackerte das Licht einer Polizeibarriere. Vor ihren Füßen spiegelte sich die Nässe auf dem Bürgersteig, wo noch Stunden zuvor Blut gelegen hatte.

Für die beiden jungen Männer aus West Virginia geht es derweil um ihr Leben. Für die Stadt geht es um mehr: um die Frage, wie weit ein Präsident gehen darf, wie lange eine Hauptstadt in einem militärischen Ausnahmezustand leben muss – und was es bedeutet, wenn Gewalt dort explodiert, wo eigentlich alles kontrolliert sein sollte. Was bleibt, ist ein Tag, der die politischen und menschlichen Konflikte dieser Monate in einem einzigen Moment offenlegte. Und ein Präsident, der statt Deeskalation mehr Soldaten schickt. Washington wird damit leben müssen – aber es wird diesen Mittwoch nicht vergessen.

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Helga M.
Helga M.
8 Stunden zuvor

…tja…

Irene Monreal
Irene Monreal
7 Stunden zuvor

Es ist so bizarr, daß Leben in den USA ist völlig unberechenbar geworden. Zu den sowieso schon unverhältnismäßig hohen Zahlen von Morden kommen jetzt noch Staatswillkür und davon aufgestachelter Terrorismus. Mir tun es sehr leid um die schwer verletzten Soldaten der Nationalgarde, wobei ich nicht einschätzen kann, wieviele von denen sich in ihrer Position ausgesprochen wohl fühlen, gerade wenn man liest, dass einige freiwillig über die angeordnete Zeit ihren Dienst verrichten.

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