Operation Midway Blitz – und der Wahnsinn geht weiter und weiter

VonRainer Hofmann

November 17, 2025

Ernesto Diaz dachte in den ersten Sekunden, er werde überfallen. Ein maskierter Mann packte seine linke Schulter, drückte ihn gegen ein Fahrzeug, und der Schmerz schoss ihm bis in den Arm. Diaz war auf dem Heimweg, lief die Archer Avenue entlang, Kopfhörer im Ohr, Coldplays „Higher Power“ noch laut genug, um alles zu überdecken. Erst als er den Kopf hob und mehr als ein halbes Dutzend Bundesbeamte sah, begriff er, dass dies kein Raub war – sondern ein Zugriff.

„Ich bin hispanisch und dunkelhäutig, deshalb haben sie mich geschnappt“, sagte Diaz. „Es macht Angst, weil man sich fühlt, als trage man ein Ziel auf der Haut. Als wäre es erlaubt, mich mitzunehmen, nur weil ich diese Farbe habe. So darf es nicht sein.“ Diaz ist amerikanischer Staatsbürger. Er ist einer von mehreren US-Staatsbürgern und Greencard-Inhabern, mit denen die Chicago Tribune gesprochen hat – Menschen, die während Trumps „Operation Midway Blitz“ festgehalten oder befragt wurden, ohne dass es einen erkennbaren Grund dafür gab, außer ihrem Aussehen. Für viele war es ein Erlebnis, das zugleich erschreckend und entwürdigend war.

Wie viele Menschen in Chicago seit Beginn der Razzien auf diese Weise behandelt wurden, weiß niemand. Expertinnen und Experten nennen es eindeutig rassistisches Profiling. Das Heimatschutzministerium bestreitet das und behauptet, man gehe nur gegen die „Schlimmsten der Schlimmen“ vor. Doch die Geschichten aus der Stadt zeichnen ein anderes Bild. Da ist der Landschaftsgärtner aus Evanston, der in Handschellen gelegt wurde, bis er nachweisen konnte, dass er Amerikaner ist. Hausmaler und Arbeiter in den Vororten im Nordwesten, die auf offener Straße aufgefordert wurden, ihre Staatsbürgerschaft zu beweisen. Eine Frau, die nach einer Schicht in einer Bar in der Innenstadt mit Kabelbindern gefesselt und eine Stunde lang verhört wurde, weil sie „nicht so aussieht wie ihr Nachname“. Und Antonio Enriquez, 53, der nur in einen Laden in Melrose Park gehen wollte, als Beamte ihn anhielten und Papiere verlangten. Enriquez sagte ihnen, er habe seine Unterlagen zu Hause, nur wenige Blocks entfernt. „Vamos a mi casa. Lasst uns zu meinem Haus gehen.“ Die Beamten ignorierten ihn. Stattdessen brachten sie Enriquez in die ICE-Einrichtung in Broadview. Er wurde sechs Stunden festgehalten. Seine Frau brachte schließlich eine Kopie seiner Greencard und seiner Social-Security-Karte. Sie hatte Angst, dass ICE ihn trotzdem nicht freilassen würde – obwohl er vollkommen legal im Land ist.

Dass solche Geschichten 2025 in einer amerikanischen Großstadt Alltag werden konnten, ist ein alarmierendes Zeichen. Es geht nicht um Einzelfälle, nicht um Missverständnisse, nicht um Pech im falschen Moment. Es sind Eingriffe in das Leben von Menschen, deren einziger Verdacht ihre Hautfarbe ist. Ein Staat, der seine Bürger auf offener Straße behandelt wie Verdächtige ohne Rechte, verliert mehr als Vertrauen – er verspielt die Grundlagen, auf denen er stehen sollte.

Der Mann war vollkommen unschuldig: der Maler Krzysztof Klim, in der Nachbarschaft Edison Park in Chicago von Agenten der U.S. Border Patrol und ICE verhaftet, während seine Identität überprüft wurde, ursprünglich aus Polen, längst US-Staatsbürger, festgenommen zwischen Halloween-Dekorationen, später wieder freigelassen – und doch ist es immer dasselbe Muster. Unschuldige werden verhaftet, man verweigert ihnen den Griff zum Portemonnaie, um den Nachweis zu erbringen, amerikanische Staatsbürger zu sein, Familien werden meist nicht informiert, Nachbarn übernehmen das, die Angehörigen fahren zur Haftanstalt, besorgen sich Hilfe, werden erst draußen stehen gelassen, dann besorgt man einen Anwalt, der wiederum stundenlang warten muss, bevor er überhaupt vorgelassen wird. In dem Moment, in dem er die Papiere auf den Tisch legt, könnte alles zu Ende sein, aber es beginnt nur ein neues Kapitel: Misstrauen, Nachfragen, „ist das auch echt?“, „das sind doch nicht sie“, immer neue Verzögerungen – der vollkommene Wahnsinn. Und das sind noch die leichten Fälle. Wer nur einen prekären Aufenthaltsstatus hat, ist der eigentliche Härtetest: Mehr als vier – sechs solcher Fälle pro Tag schafft man kaum, dazu jedes Mal einen Anwalt finden, hoffen auf Pro-bono-Unterstützung oder ein halbwegs erträgliches Arrangement, irgendwo bei 500 Dollar, organisieren, die Familie benachrichtigen, im Eiltempo recherchieren, mit der ACLU oder lokalen Hilfsorganisationen Rücksprache halten – ein System, das vorgibt, Ordnung zu bringen, und in Wahrheit Menschen im Minutentakt aus ihrem Alltag reißt.

Ernesto Diaz

Und diejenigen, die es trifft, tragen diese Stunden der Demütigung weiter mit sich herum. Diaz sagte, er höre seitdem jedes Martinshorn anders. Enriquez geht nicht mehr alleine einkaufen. Und viele, die bisher nicht darüber gesprochen haben, wissen, dass es ihnen genauso hätte passieren können. Chicago ist eine Stadt, die gelernt hat, mit Härte umzugehen. Aber diese Härte kommt diesmal von einer Regierung, die vorgibt, Ordnung zu schaffen – und stattdessen Angst verbreitet. Jeder, der so etwas unterstützt, sollte sich schämen – angefangen in den USA, über Australien, Asien, Afrika und Südamerika bis nach Europa und nach Deutschland, wo einige Menschen glauben, die AfD sei der Heilsbringer. Die Wahrheit ist eine andere. Es bringt Unglück und Dunkelheit.

Diese Angst bleibt. Sie sitzt tief. Und sie sagt alles darüber, wie sehr ein Land sich verändern kann, wenn Menschen nicht nach dem beurteilt werden, was sie tun, sondern danach, wie sie aussehen. Es kann in den kommenden Tagen zu Verzögerungen kommen, weil unsere Schreibtische durch die aktuellen ICE-Vorfälle überfüllt sind und wir nur mit halber Crew arbeiten – zusätzlich belastet durch die Lage in Venezuela.

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Peter Schlenger
Peter Schlenger
1 Tag zuvor

Es ist für viele hier nicht vorstellbar, wie schlimm die gesamte Situation sein muß. Ich finde es großartig, dass ihr es aufzeigt und wie ihr das aufzeigt.

Ela Gatto
Ela Gatto
9 Stunden zuvor

Und der Supreme Court hat Racial Profiling gestattet.
Damit kann es jedem nicht Weißen passieren.
Egal ob US-Bürger oder nicht.

ICE will Trumps Quoten erfüllen.
Angst schüren, damit es keine Gegenwehr gibt.
ICE ist die neue SS.

Und hier in Europa schweigt man dazu.
So unglaublich traurig.

All die Menschen in Angst.

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