Charlotte erlebte an diesem Wochenende einen Tiefpunkt, wie ihn die Stadt seit Jahren nicht kannte. Innerhalb weniger Stunden verwandelte sich der Alltag einer Metropole, die sonst von lateinamerikanischem Leben, internationaler Zuwanderung und wirtschaftlichem Wachstum geprägt ist, in eine Szenerie aus Angst, geschlossenen Türen und flüchtenden Menschen. Was begann wie ein unauffälliges Auftauchen einzelner Einsatzwagen, wurde binnen kürzester Zeit zum größten Zugriff auf Migrantinnen und Migranten in der jüngeren Geschichte North Carolinas. Über Achtzig Festnahmen allein am Samstag, begleitet von schwer bewaffneten Beamten, die Parkplätze absuchten, Geschäfte durchstreiften und selbst Kirchengelände nicht ausließen.

Unter der Leitung von Gregory Bovino, der in den vergangenen Monaten bereits in Chicago und Los Angeles ähnliche Operationen gefahren hatte, breitete sich die Border Patrol über Charlotte aus, als liege die Stadt an einem internationalen Grenzübergang und nicht 170 Meilen vom nächsten Küstenpunkt entfernt. Restaurants, in denen sonst Reggaeton läuft, blieben geschlossen. Der große Flohmarkt, ein Treffpunkt für lateinamerikanische Familien, sagte den gesamten Betrieb ab. Selbst katholische Gemeinden blieben am Sonntag ungewohnt leer, weil viele aus Sorge nicht einmal zum Gottesdienst kamen.
Ein arbeitsreicher Sonntag für die Regionalbehörde der U.S. Customs and Border Protection (CBP) im Südosten, die in Charlotte weiterhin die „Operation Charlotte’s Web“ durchführt. Die Szene spielte sich auf einer Baustelle ab. Dutzende Demonstrierende folgten den Einsatzkräften, riefen ihnen etwas zu, hielten kleine Papierschilder hoch und bliesen in Pfeifen, offenbar um Menschen zu warnen – und alle sind wütend.
Die Bilder aus der Stadt sprechen für sich: Ein junger Mann, der bei einer Kirchenaktion half, wurde abgeführt. Arbeiter eines Home-Depot-Markts, die gerade ihre Schicht beendet hatten, wurden kontrolliert. Ein Landschaftsgärtner, der Weihnachtsdekoration anbrachte, geriet ins Visier der Beamten. Ein hispanischer US-Staatsbürger musste zusehen, wie ein Border-Patrol-Agent die Fensterscheibe seines Trucks einschlug. Für viele Anwohner fühlte sich das Wochenende an wie ein Schock, der ihnen den Boden unter den Füßen wegzog.

Nikki Marín Baena von der Organisation Siembra NC fand dafür klare Worte. Sie sprach von einem „Tag der Schande“, an dem die Republikanische Partei in North Carolina die Ankunft der Einsatzkräfte feierte, obwohl diese sich quer durch die Stadt bewegten, als müsse man eine ganze Gemeinschaft einschüchtern. Tatsächlich waren frühere Einsätze in anderen Bundesstaaten kaum anders verlaufen: Viele der Festgenommenen hatten keine nennenswerten Vorstrafen. Doch die Trump-Regierung betrachtet seit Jahren jeden ohne gültigen Aufenthaltstitel grundsätzlich als Kriminellen – eine Sichtweise, die jetzt die Grundlage dieser Razzien bildet.

Beim internationalen Supermarkt „Super G Mart“ lief die Situation am Samstag völlig aus dem Ruder. Fünf Angestellte wollten gerade Einkaufswagen zurückbringen, als mehrere SUVs vor ihnen anhielten. Einige rannten reflexhaft weg, erschreckt von Uniformen und Waffen. Ein junger Mitarbeiter wurde laut Besitzer Peter Han von zwei Agenten zu Boden gedrückt und abgeführt. Zwei weitere Angestellte verschwanden ebenfalls in den Fahrzeugen der Beamten. Kassiererinnen im Teenageralter flohen in den hinteren Teil des Ladens und verbarrikadierten sich aus Angst in der Toilette. Am Sonntag blieben über die Hälfte der Belegschaft dem Dienst fern – aus Sorge, erneut ins Visier zu geraten.

Die Stadtverwaltung und das County hatten bereits zuvor gewarnt, dass solche Einsätze bevorstehen könnten. Gouverneur Josh Stein rief die Menschen auf, Ruhe zu bewahren, aber jeden Übergriff zu dokumentieren. „Wenn wir Ungerechtigkeit sehen, dürfen wir nicht wegschauen“, sagte er, und forderte dazu auf, problematische Situationen zu filmen und der lokalen Polizei zu melden – jenen Behörden, die nach Abzug der Bundesbeamten wieder für die Sicherheit in der Region verantwortlich sind. Viele in Charlotte fragen sich, warum ihre Stadt überhaupt zum Ziel wurde. Die Border Patrol ist eigentlich für Grenzräume zuständig, nicht für Wirtschaftszentren im Landesinneren. Doch seit Monaten zeichnet sich ein Muster ab: Orte mit großen Migrantengemeinschaften geraten vermehrt ins Visier. Charlotte wächst stark, vor allem durch Menschen aus Lateinamerika, und diese Dynamik scheint in Washington inzwischen als Einladung verstanden zu werden.

Wie lange die Operation andauern wird, bleibt unklar. Die Einsatzkräfte sollen anschließend nach New Orleans weiterziehen. Auch Asheville, im Westen des Bundesstaats, bereitet sich bereits darauf vor, dass es als Nächstes getroffen werden könnte. Charlotte hingegen steht noch unter dem Eindruck eines Wochenendes, das wie ein Warnsignal wirkte – ein Eingriff von außen, der zehntausenden Menschen über Nacht die Sicherheit ihrer eigenen Stadt genommen hat. Was bleibt, ist eine Atmosphäre aus Angst, Leere und der Ahnung, dass das, was hier begonnen hat, erst der Auftakt zu etwas Größerem sein könnte.
Investigativer Journalismus braucht Mut, Haltung und auch Deine Unterstützung.
Stärken bitte auch Sie unseren journalistischen Kampf gegen Rechtspopulismus und Menschenrechtsverstöße. Jede investigative Recherche, jede Dokumentation, jeder Tag, jede Nacht – all das braucht Zeit, Recherche und juristische Absicherung. Wir finanzieren uns nicht über Werbung oder Konzerne, sondern allein durch Menschen, die unabhängigen Journalismus möglich machen. Menschen wie dich.
Nicht jeder kann gleich viel geben. Aber jeder kann etwas bewirken. Jeder Beitrag schützt ein Stück journalistische Unabhängigkeit.
Updates – Kaizen Kurznachrichten
Alle aktuellen ausgesuchten Tagesmeldungen findet ihr in den Kaizen Kurznachrichten.
Zu den Kaizen Kurznachrichten In English
Ich kann diese Berichte kaum noch anhören. Für mich sind diese Vorgänge schlicht unvorstellbar. Diese brutale Menschenjagd übertrifft jede Fiktion