Gefrorene Zukunft – Europas Ringen um 140 Milliarden, brennende Wohnblöcke in Kiew und ukrainische Angriffe auf russische Ölanlagen

VonRainer Hofmann

November 16, 2025

Es ist der Augenblick, in dem selbst die vertrauten Formeln der Diplomatie nicht mehr tragen. Brüssel verhandelt, die Hauptstädte zögern, und in Kiew läuft die Zeit schneller ab, als Europa es wahrhaben will. Sollten die EU-Staaten bis Dezember keinen Weg finden, jenen entschädigungsbezogenen Kredit über 140 Milliarden Euro freizugeben – besichert durch die eingefrorenen Vermögen der russischen Zentralbank –, rutscht die Ukraine bereits Anfang 2026 in eine Finanzkrise, die tief in den Alltag eines ohnehin ausgezehrten Landes schneidet. Und anders als in früheren Monaten ist diesmal kein Ausweichen mehr möglich: Die Entscheidung ist absolut, und sie ist überfällig.

Recherchen und Angaben des Finanzministerium der Ukraine

Der Aufbau des Plans ist bekannt. Seit Beginn des russischen Angriffskrieges wurden rund 300 Milliarden Dollar russischer Reserven weltweit eingefroren; etwa 210 Milliarden Euro davon liegen in Europa, und davon wiederum 140 Milliarden im belgischen Depot Euroclear. Bisher nutzte die EU lediglich die Erträge dieser Vermögen, um die Ukraine zu unterstützen. Doch Ursula von der Leyen schlug vor, die Sicherheiten selbst nutzbar zu machen – nicht ihre Renditen, sondern ihren Kern. Es wäre ein Signal an Kiew, an den IWF, an die Welt, dass Europa in diesem Moment Verantwortung übernimmt, ohne die eigenen Haushalte weiter zu überdehnen.

Ursula von der Leyen und Wolodymyr Selenskyj

Doch Belgien blockiert. Die Regierung in Brüssel verweist auf rechtliche und finanzielle Risiken, insbesondere auf mögliche Haftungsfragen und spätere Auseinandersetzungen, falls Russland eines Tages Entschädigungen einfordern sollte. Andere EU-Staaten drängen, teils ungeduldig, darauf, diese Bedenken nicht den gesamten Prozess zum Erliegen bringen zu lassen. „Europa darf kein Debattierzirkel sein, unfähig zum Handeln, wenn es darauf ankommt“, lautet der Ton hinter verschlossenen Türen. Und doch bleibt die Blockade bestehen – obwohl gerade jetzt jeder Monat zählt. Denn die Zahlen aus der Ukraine sind unnachgiebig. Der Staatshaushalt benötigt 2026 insgesamt 47 Milliarden Dollar externes Kapital; 2025 waren es noch 39,3 Milliarden. Schon diese Summe lässt sich nur aufbringen, weil die ERA-Mittel aus den russischen Vermögenswerten und das Ukraine Facility der EU nahezu jede grundlegende staatliche Funktion stützen: Gesundheitswesen, Bildung, Sozialleistungen, Energie, Renten. Ohne diese Einnahmen würde das Land schlicht stehen bleiben.

Tatsächlich rutscht das System jetzt schon. Das staatliche Cashback-Programm – für viele Familien ein wichtiger Baustein der Haushaltskalkulation – ist seit zwei Monaten eingefroren. Die Medaillen für Schulabsolventen wurden abgeschafft, auch um die Kosten zu senken. Förderprogramme für Landwirte und Gartenbaubetriebe sind ausgelaufen. Selbst für die Löhne der Soldaten musste die Rada das Budget im Herbst um knapp acht Milliarden Dollar erhöhen – Geld, das der ERA-Topf nun an anderer Stelle nicht mehr bereitstellen kann. 2026 aber wird teurer als jedes Jahr seit Kriegsbeginn. Die gesamte Kriegsführung kostet rund 120 Milliarden Dollar jährlich. Die Ukraine selbst kann davon gut die Hälfte aufbringen, nicht mehr. Der Rest muss kommen – oder er fehlt. Und sollte er fehlen, beginnt eine Form des inneren Abnutzungskrieges, die gefährlicher ist als jeder Mangel an Munition.

Am 13. November 2025 erhielt die Ukraine von der Europäischen Union rund 5,9 Milliarden Euro, umgerechnet etwa 6,8 Milliarden US-Dollar. Ein großer Teil dieser Summe floss über das ERA-Programm, das an Erträge aus eingefrorenen russischen Vermögenswerten gebunden ist. Präsident Wolodymyr Selenskyj erklärte dazu, dass nur anhaltender Druck auf Moskau Wirkung zeige und deshalb die Nutzung dieser russischen Gelder weiter vorangetrieben werden müsse.

Einige europäische Staaten haben ihre Zusagen bereits erhöht. Deutschland plant über 9,6 Milliarden Dollar für 2026 – ein plus von 3,5 Milliarden. Schweden kündigte acht Milliarden für 2026 und 2027 an, die Niederlande 3,8 Milliarden für das kommende Jahr. Doch sie wissen selbst, dass ihre erhöhte Unterstützung nicht reicht, um das strukturelle Loch zu schließen. Die USA ihrerseits setzen weit weniger Mittel ein: Für 2025 stehen nach heutigem Stand gerade einmal 300 Millionen Dollar im Raum. Der angekündigte Wiederaufbaufonds zwischen Washington und Kiew ist ein Instrument der Zeit nach dem Krieg – nicht der täglichen Not.

Unsere Recherchen ergaben, dass der IWF die Freigabe eines Kredits von rund acht Milliarden Dollar davon abhängig machen, ob die EU-Mitgliedstaaten den geplanten 140-Milliarden-Euro-Reparationskredit aus eingefrorenen russischen Vermögenswerten beschließen. Ein solches Signal gilt als entscheidend für die Wahrnehmung an den Finanzmärkten und für die Stabilität der Haushaltslage in Kiew.“, wenn langfristige Zahlungsfähigkeit erkennbar ist. Und genau das ist der Zweck des 140-Milliarden-Pakets: zu zeigen, dass die Ukraine nicht nur militärisch, sondern auch haushaltspolitisch überleben kann. Die NATO kündigt exakt jene Summe an, die der Ukraine im kommenden Jahr fehlt: 60 Milliarden Dollar. Doch auch hier liegt zwischen Worten und ausbezahlten Mitteln eine Zeitspanne, die Kiew nicht hat. Der Winter 2025/26 wird bereits mit einem angespannten Haushalt begonnen – jede Verzögerung verschärft die Lage.

Gleichzeitig liegt über all diesen Zahlen ein Schatten, der die Entscheidungsräume in Europa weiter verengt. Die jüngste Korruptionsaffäre in Kiew – Rücktritte, interne Untersuchungen, Millionenverluste in Ministerien – hat politische Räume in mehreren europäischen Hauptstädten sichtbar geschrumpft. Nicht aus Ablehnung der Ukraine, sondern aus dem Druck, parlamentarische Mehrheiten für neue Milliardenpakete zu gewinnen, ohne die eigene Öffentlichkeit zu verlieren. Es ist diese leise, aber durchdringende Skepsis, die Gespräche verzögert und die Bereitschaft mindert, nationale Haushalte weiter zu überdehnen. Und trotzdem weiß jeder in Brüssel, dass die Alternative – ein finanziell strauchelndes Kiew – den Krieg nicht verkürzt, sondern verlängert.

Massiver Drohnen- und Raketenangriff Russlands auf Kiew am 14. November 2025 – 6 Menschen wurden getötet und 35 verletzt

Sollte der reparationale Kredit scheitern, bleiben nur zwei Wege: ein neuer gemeinsamer EU-Vergemeinschaftungsschritt über Schulden, der in vielen Hauptstädten schwer vermittelbar wäre, oder massive nationale Kredite, die bereits belastete Haushalte sprengen könnten. Beide Wege sind politisch riskant. Beide würden Europa über Jahre binden. Und beide würden genau jene Erzählung stärken, die der Kreml seit Monaten nährt: dass die Ukraine ein Fass ohne Boden sei.

Massiver Drohnen- und Raketenangriff Russlands auf Kiew am 14. November 2025 – 6 Menschen wurden getötet und 35 verletzt

Unterdessen brannte sich die Nacht in Kiew erneut in das Gedächtnis eines erschöpften Landes ein. Flammen fraßen sich durch die oberen Stockwerke von Wohnhäusern, Funkenregen stürzte über ganze Straßenzüge, und die roten Leuchtspuren der Geschosse zeichneten Linien in den schwarzen Himmel, als Russland die Hauptstadt stundenlang mit Drohnen und Raketen überzog. Sechs Menschen starben, Dutzende wurden verletzt, Fassaden stürzten ein, Wohnungen brannten aus, und in fast jedem Bezirk riefen Feuerwehrleute gegen die Hitze an. Die Sirenen begannen kurz vor Mitternacht, verstummten erst im Morgengrauen, und dazwischen lag das vertraute Dröhnen der Angriffsdrohnen, das Rattern der Abwehrgeschütze, das dumpfe Echo von Einschlägen. Tausende suchten Schutz in Metrostationen, ausgerüstet mit Matten, Stühlen, improvisierten Lagern – Routine in einem Krieg, der in sein viertes Jahr geht. Am Morgen war das Ausmaß sichtbar: zerborstene Fenster, geschwärzte Wände, zerstörte Eingänge, ein Stadtbild voller offener Wunden. Auch im Nordosten, in Charkiw, fielen Wasser und Strom aus. Präsident Selenskyj sprach von einem Angriff, der bewusst darauf gezielt habe, möglichst viele Menschen zu treffen und den Winter in Kälte und Dunkelheit zu treiben.

Massiver Drohnen- und Raketenangriff Russlands auf Kiew am 14. November 2025 – 6 Menschen wurden getötet und 35 verletzt

Gleichzeitig schlug die Ukraine zurück. Während Rettungskräfte in Kiew nach Vermissten suchten, trafen ukrainische Drohnen ein Öllager und Hafenanlagen im russischen Noworossijsk; weitere Angriffe legten in den vergangenen Tagen Teile des russischen Stromnetzes lahm. Doch die Bilanz der Luftschlacht bleibt unbarmherzig: Russland schickt Nacht für Nacht Schwärme von Angriffs- und Täuschdrohnen, dazu Raketen in einer Zahl, die die ukrainische Abwehr dauerhaft überlastet. Selenskyj fordert deshalb erneut Patriot-Systeme, deren Beschaffung das Land allein nicht finanzieren kann. Außenminister Sybiha warnte, der Angriff zeige, wie dringend neue Hilfen gebraucht werden – Luftabwehr, langfristige Unterstützung, Druckmittel gegen Moskau. Denn die Frage ist längst nicht mehr nur, wie man zerstörte Häuser repariert, sondern wie ein Land überlebt, das jede Nacht gezwungen ist, aufs Neue um den nächsten Morgen zu kämpfen.

In Russland hinterließ der ukrainische Angriff auf den Hafen von Noworossijsk spürbare Folgen. Nach mehreren bestätigten Berichten musste der Export von rund 2,2 Millionen Barrel Öl und Petroleumprodukten pro Tag vorübergehend gestoppt werden – etwa zwei Prozent des weltweiten Angebots. Weitere Quellen gaben uns Zahlen, die von möglichen täglichen Einnahmeverlusten von „70 Millionen Dollar pro Tag“ sprechen. Bislang zeigen unsere Recherchen aktuell noch keine Bestätigung dieser Größenordnung. Sicher ist nur, dass der Schlag gegen eines der wichtigsten Exportzentren Moskaus den Druck auf Russlands kriegsfinanzierende Energiewirtschaft weiter erhöht.

Die kommenden Wochen entscheiden, ob die Ukraine den Winter 2025/26 in einem Zustand übersteht, der staatliches Funktionieren, militärische Verteidigungsfähigkeit und gesellschaftliche Stabilität gleichzeitig erlaubt. Oder ob sie in einen neuen Abschnitt dieses Krieges gezwungen wird: einen, in dem nicht nur an der Front gekämpft wird, sondern auch gegen ein langsames finanzielles Erschöpfen, das kein Land allein durchstehen kann.

Es ist ein Risiko, das allen bewusst ist – und dennoch droht, Realität zu werden. In Sitzungssälen mit gedämpften Lichtern, in denen die Entscheidungen der nächsten Wochen fallen, liegt der Unterschied zwischen einem Land, das trotz Krieg atmet, und einem, das im falschen Moment die Luft verliert.

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