Die Rückkehr der Hüter – Wie indigene Völker in Belém den Kurs der Welt verändern

VonRainer Hofmann

November 15, 2025

Sie kamen in Booten, Bussen, Lastwagen, zu Fuß und mit der unerschütterlichen Entschlossenheit jener, die wissen, dass ihnen die Zeit davonläuft. Aus den Anden Ecuadors, den Regenwäldern Perus, aus den Savannen und Wäldern Brasiliens. Tausende. Junge und Alte. Frauen und Männer. Ein Strom von Stimmen, der sich nicht mehr überhören lässt. Und in Belém, wo der Amazonas sich in einem schimmernden Delta verliert, wurde aus diesem Strom eine Welle, die den Gipfel erschütterte.

Zum ersten Mal in der langen Geschichte der Klimakonferenzen war ihre Präsenz nicht nur sichtbar – sie war das Zentrum. Im Blue Zone, auf dem Campus der Universität von Pará, in den Straßen und auf den Plätzen der Stadt. Ein neuer Takt schlug durch diesen Gipfel, und er kam aus jenen Gebieten, die seit Jahrhunderten den Preis für die Entscheidungen anderer zahlen.

Der lauteste Klang des Gipfels war nicht der der Staatschefs, sondern jener der Delegationen, die jahrzehntelang draußen bleiben mussten.

Katty Gualinga, 25, aus Ecuador, stand am Eingang des Konferenzgeländes, ihr Gesicht mit den feinen Linien ihrer Gemeinschaft bemalt, die Stimme heiser von Tagen voller Gespräche. Ihre Reise dauerte 31 Tage, begann auf einem Gletscher am Cayambe-Vulkan und führte über Flüsse, die wie Adern durch den Amazonasraum ziehen. Dutzende schlossen sich ihr an. Sie nannten ihre Fahrt Yaku Mama – Mutter des Wassers. „Die Wälder trocknen. Die Hitze steigt. Und trotzdem sind wir es, die das Leben im Wald schützen“, sagte sie. Ein Satz, der in Belém hängen blieb wie ein Widerhall aus einer Zukunft, die ohne diese Stimmen nicht möglich ist.

Während draußen Demonstranten eine riesige aufblasbare Cobra in die Höhe hielten – Symbol ihrer Forderungen, ein Ruf nach Finanzierung, Anerkennung, Schutz –, sprachen drinnen Diplomaten darüber, ob ein globales Abkommen überhaupt noch möglich sei, nun da die USA sich erneut aus der Verantwortung stehlen wollen. Andreas Bjelland Eriksen, Norwegens Klimaminister, formulierte es vorsichtig: „Wenn wir hier in Belém die Chance bekommen, über dieses schwierige Thema wirklich zu sprechen, wäre das gut.“ Der Satz wirkte, als hätte er die Realität auf den Straßen der Stadt nur gestreift.

Der lauteste Klang des Gipfels war nicht der der Staatschefs, sondern jener der Delegationen, die jahrzehntelang draußen bleiben mussten.

Denn die Realität war, dass indigene Delegationen den Gipfel blockierten, um ihn zu öffnen. Am Freitagmorgen setzten sich Dutzende friedlich an den Haupteingang des Konferenzgeländes und zwangen die Staatsvertreter zu anderen Wegen. Am Dienstag drang eine kleinere Gruppe in den Tagungsbereich ein, stieß mit Sicherheitskräften zusammen, zwei Guards wurden verletzt. Die großen Organisationen wie die Articulation of Indigenous Peoples of Brazil distanzierten sich, betonten aber das Recht auf Protest. Die Botschaft war klar: Wir reden nicht mehr nur mit – wir bestehen darauf, dass ihr uns zuhört.

Sônia Guajajara, Brasiliens Ministerin für indigene Völker, schätzte die Zahl der indigenen Teilnehmer:innen auf rund 5.000. Etwa 900 hatten offizielle Akkreditierung für den innersten Bereich des Gipfels. „Ohne indigene Völker gibt es keine Lösung gegen die Klimakrise“, sagte sie. Kein Anspruch, keine Überhöhung – ein nüchternes Faktum. Denn wissenschaftliche Studien überall auf der Welt zeigen, dass dort, wo indigene Gruppen volle Landrechte besitzen, Wälder nicht dem Feuer und der Ausbeutung anheimfallen. Biodiversität bleibt erhalten, Schutzgebiete leben fort, und genau das sichert letztlich auch jene Städte, in denen die Entscheidungsträger heute über Emissionskurven und Temperaturziele sprechen.

Der lauteste Klang des Gipfels war nicht der der Staatschefs, sondern jener der Delegationen, die jahrzehntelang draußen bleiben mussten.

Doch Belém machte schonungslos sichtbar, wie weit Anspruch und Wirklichkeit auseinanderliegen. In Brasilien warten 107 indigene Territorien auf endgültige Anerkennung. Einige seit Jahrzehnten. Andere seit Generationen. Während Präsident Lula in diesem Jahr mehr Demarkationen unterschrieben hat als seine Vorgänger in fast zehn Jahren zusammen, hat er zugleich eine Ölbohrung nahe der Amazonas-Mündung genehmigt – ein Affront, der hier überall spürbar war.

Angela Amanakwa Kaxuyana, die seit 22 Jahren für die Anerkennung ihres zwei Millionen Hektar großen Gebiets kämpft, sagte es ohne Umschweife: „Wir können diese COP nicht verlassen, ohne dass klar ist, dass indigene Völker Teil der Lösung sind.“ Ein Satz, der eher wie ein letztes Ultimatum klang als wie eine Forderung. Auch international verschiebt sich die Lage. Norwegen, Großbritannien, die Niederlande und Deutschland haben ihre Klimafinanzierungszusage von 2021 erneuert – weitere fünf Jahre, nicht vier, wie einige Medien zunächst berichteten. Mindestens zwölf Staaten wollen bis 2030 die Rechte auf 160 Millionen Hektar indigenen Landes anerkennen. Zahlen, die nach viel klingen, aber im Angesicht der globalen Ausbeutungsdynamik eher wie erste Schritte wirken.

Der lauteste Klang des Gipfels war nicht der der Staatschefs, sondern jener der Delegationen, die jahrzehntelang draußen bleiben mussten.

Und doch: In Belém spürte man, dass etwas kippt. Nicht abrupt, nicht laut – aber endgültig. Der lauteste Klang des Gipfels war nicht der der Staatschefs, sondern jener der Delegationen, die jahrzehntelang draußen bleiben mussten. Menschen, die in den Wäldern leben, die die Welt vor dem Schlimmsten schützen, obwohl sie selbst am stärksten bedroht sind. Der Gipfel heißt COP30. Doch in Belém war er vor allem eines: COP der Gegenwart. COP des Umbruchs. COP derer, die nicht länger den Rand besetzen, sondern das Zentrum bilden.

Die Rückkehr der Hüter hat begonnen. Und wer ihre Stimmen heute noch ignoriert, wird morgen nicht mehr behaupten können, er habe nichts gewusst.

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Oliver Sturm
Oliver Sturm
14 Stunden zuvor

Danke für die Berichte darüber. Für die Welt ist das wichtig, für die meisten Medien leider nicht. Das zeigt auf, wo die Welt hingekommen ist.

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