Veracruz/Monterrey/Waco – Es war ein Dienstagmorgen im März, als in Waco, Texas, das leise Ritual eines Arbeitstages begann. Sergio Garcia erhitzte die Bohnen, prüfte die Barbacoa, schmeckte den Reis ab. Dreißig Jahre lang hatte er das so getan, mit derselben Hingabe, derselben Ruhe. Draußen wartete der Food Truck, bereit für die Stammkundschaft der Innenstadt. Dann traten zwei Männer auf ihn zu – einer in Zivil, der andere mit einer Weste, auf der nur ein Wort stand: Police. „Sie fragten, ob ich Sergio sei“, erinnert sich Garcia. „Ich sagte: Ja, ich bin Sergio.“ Es war das letzte Mal, dass er seine Küche sah. Innerhalb von 24 Stunden war er über die Grenze nach Nuevo Laredo abgeschoben – fort aus dem Land, das er 36 Jahre lang mit seiner Arbeit, seiner Freundlichkeit und seinem Essen bereichert hatte. Sergio Garcia, geboren im mexikanischen Veracruz, war mehr als ein Koch. Er war ein Stück Waco – eine Institution, deren Ceviche und Carnitas selbst den Tross der White-House-Presse anlockten, als George W. Bush im nahen Crawford residierte. Reporter, Senatoren, Sicherheitsbeamte – sie alle kannten El Siete Mares, Garcias erstes kleines Restaurant an der Dutton Avenue, wo Plastikstühle zu Barhockern wurden und Wärme wichtiger war als Dekor.

Als ICE ihn im März aufgriff, hatte er keinen Eintrag im Strafregister, keine laufenden Verfahren – nur eine alte, nie vollstreckte Abschiebungsverfügung aus dem Jahr 2002. Jahrelang hatten die Behörden darüber hinweggesehen. Unter Präsident Trumps zweiter Amtszeit, sagen Einwanderungsjuristen, gilt das nicht mehr. Alte Akten werden hervorgeholt, längst integrierte Familien ins Visier genommen.

Für die Menschen in Waco war Sergio keiner von vielen. Er war der, der half, wenn jemand pleiteging. Der, der dem Mechaniker in seinem alten Restaurantlokal mietfrei Platz ließ, damit ein neuer Laden entstehen konnte. Der Mann, der Hochzeiten bekochte und sonntags in der Kirche saß, als wäre er nie fort gewesen. Als die Nachricht seiner Abschiebung durchsickerte, schrieben Dutzende Stammgäste ins Netz, weinten, spendeten. „Wenn sie ihn deportieren können, dann kann es jeden treffen“, sagte Stuart Smith, ein befreundeter Anwalt im Ruhestand.
Sergios Tochter Esmeralda führte den Food Truck weiter, solange sie konnte. Ende September musste sie aufgeben. Der Betrieb lohnte sich nicht mehr, und der Vater fehlte. „Drei Tage nach meiner Geburt war ich schon unter dem Tresen im Restaurant“, erzählt sie. „Meine Eltern haben immer gearbeitet. Das war ihr Leben.“ Während seine Familie in Texas kämpfte, erlebte Sergio in Mexiko ein anderes Kapitel – eines, das sich anhört wie ein Albtraum. Nach seiner Abschiebung wurde er, wie er berichtet, in Nuevo Laredo von einer Gruppe festgehalten, die ihn erpresste. Man nahm ihm das Handy ab, drohte, ihn „schlimmeren Leuten“ zu übergeben, falls er kein Geld auftreiben könne. Über einen Monat lang wusste niemand, wo er war. Erst als er versuchte, über den Rio Grande zurückzukehren, wurde er von der US-Grenzpolizei aufgegriffen und erneut deportiert – diesmal erst nach Veracruz, dann nach Chiapas, an die Südgrenze Mexikos. Solche „Tiefabschiebungen“ („deportaciones al sur“) werden von ICE bewusst eingesetzt werden, um Rückkehrversuche zu verhindern.

Sergio wurde an der Grenze an INM-Beamte überstellt und vorübergehend in eine sogenannte „Estación Migratoria“ (Einwanderungshaftanstalt) gebracht. Dort überprüft man die Identität, erstellt Protokolle und leitet je nach Fall eine „freilassende Übergabe“ (liberación controlada) oder eine Verbringung in ein anderes Bundesgebiet ein.

Diese Einrichtungen sind keine offenen Lager, sondern geschlossene Haftzentren – oft überfüllt, mit miserablen Bedingungen. Dort warten Abgeschobene manchmal age auf ihre Entlassung oder Weiterleitung. ICE beschreibt denselben Vorgang in kühlen juristischen Floskeln: Sergio Garcia, „ein 65-jähriger, zweimal abgeschobener krimineller Ausländer“, habe „in offener Missachtung unserer Gesetze illegal die USA betreten“. Kein Wort von dem, was er für eine Stadt, eine Gemeinde, ein Land bedeutete. Kein Hinweis darauf, dass er seit Jahrzehnten in Kirchen gekocht, Feste beliefert und Arbeitsplätze geschaffen hatte.
In Waco erzählen sie seine Geschichte mit einer Mischung aus Zorn und Traurigkeit. Mito Diaz-Espinoza, Präsident der hispanischen Handelskammer, nennt es ein Fanal: „Wenn sie jemanden wie Sergio abschieben, einen, der bekannt, beliebt und fleißig ist – dann ist niemand mehr sicher.“ Seit seiner Festnahme meiden viele Einwanderer öffentliche Orte. Einige schicken ihre Kinder nicht mehr zur Schule. Die Angst ist zurück in einer Stadt, die sich selbst als offen begriffen hatte.

Im September veröffentlichten seine Frau Sandra und seine Tochter „Esme“ eine Abschiedsbotschaft an die Gemeinde. Darin erinnerten sie an die Geschichte von harter Arbeit, Widerstandskraft und Träumen, die ihre Familie geprägt hatten. Sergio, schrieben sie, sei in Veracruz direkt am Meer aufgewachsen, inspiriert von den Aromen seiner Heimat. Vom Verkauf von Ceviche aus einem Lieferwagen bis hin zu seinem ersten Restaurant El Siete Mares – seine Geschichte sei eine von Ausdauer, Entschlossenheit und Liebe zur Gemeinschaft gewesen.

Mehr als dreißig Jahre lang hatte er sein Herz in den Dienst Wacos gestellt. Menschen dankten ihm, dass er Teil ihrer Hochzeiten, ihrer Samstagmorgen auf dem Wochenmarkt und der Feste in der St.-Franziskus-Kirche gewesen war. „Diese Erinnerungen“, schrieben sie, „sind es, die diese Reise so bedeutungsvoll gemacht haben.“
Doch die Menschen in Waco wollten diesen Abschied nicht still hinnehmen. Ihre Reaktionen auf seine Geschichte waren wie eine Flut aus Erinnerung, Empathie und Wut.
„Das zerreißt mir das Herz“, sagte eine Frau. „Wir wollten im November kommen, um meinem Freund meinen Lieblingsort zu zeigen.“ Ein anderer schrieb: „Ich vermisse dich, mein Bruder. Ich hoffe, es geht dir gut.“ Ein ehemaliger Mitarbeiter erinnerte sich: „Ich bin dankbar, dass ich bei Sergio meine erste Arbeit hatte – Tische abräumen und Bestellungen annehmen auf dem Wochenmarkt.“ Ein Stammgast sagte: „Zwei Jahre haben wir in Waco gelebt, und jeden Samstag holten wir uns einen Burrito von seinem Food Truck. Sandra war immer so freundlich, sie kannte unsere Namen. Diese Herzlichkeit vergesse ich nie.“
Und dann war da eine Stimme, die die Wut vieler zusammenfasste: „Wunderschöne Worte – aber es ist herzzerreißend, dass Sergio nach 30 Jahren harter Arbeit und Liebe für seine Gemeinde so behandelt wird. ICE – das steht für Institution der feigen Vollstrecker, oder kurz: Zentrum niedriger Würde. Während echte Kriminelle frei herumlaufen, treffen sie einen 65-jährigen, ehrlichen, hart arbeitenden Mann, der von Tausenden geliebt wird, sogar von früheren Präsidenten. Es ist eine Schande.“
Andere Menschen äusserten sich: „Die Familie Garcia hat Waco zu einem besseren Ort gemacht.“ „Deine Familie ist ein Fundament dieser Stadt – danke für all das gute Essen und all die Liebe.“ „Ich hoffe, dass unser Land eines Tages wieder Mitgefühl findet. So etwas sollte nie passieren.“ „Er war Teil von uns. Wenn sie ihn abschieben, dann kann es jeden treffen.“

Zwischen all der Trauer mischten sich auch Stimmen der Bitterkeit, Menschen, die mit kühler Logik fragten, warum er „nach 36 Jahren nicht legal geworden“ sei. Doch selbst diese Härte ging unter in der Welle aus Zuneigung, Solidarität und Trauer. Sergio Garcia lebt nun in Monterrey. Er kocht wieder, im Kleinen, für Freunde, Nachbarn, Kunden, die von ihm gehört haben. „Ich mache wieder Ceviche“, sagt er. Ein paar Leute bestellen, ich liefere es aus. So habe ich damals auch angefangen.“ Es klingt ruhig, fast heiter – und doch wie der Anfang einer Geschichte, die er nie beenden wollte. In Waco ist sein Platz leer. Der Truck steht still, das Logo verblasst, doch seine Geschichte bleibt. Sie hängt in der Luft wie der Duft seiner Küche – warm, würzig, ehrlich. Und irgendwo zwischen den Erinnerungen, den Stimmen und der Stille steht eine Frage, die niemand beantworten kann, die aber alles erklärt: Es war einmal in Amerika …
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Was für eine nachdenkliche Geschichte.
Wenn man das ganze sieht, eine Tragödie …