Es war kurz nach Mittag, als die ersten Sirenen durch die Straßen von Little Village schrillten. Menschen liefen aus Läden, Türen fielen ins Schloss, und über der 26th Street lag eine gespannte Stille – jene Stille, die man spürt, wenn etwas Übergriffiges, etwas Unwirkliches beginnt. Minuten später rasten schwarze Fahrzeuge durch die Kreuzung an der Kedzie Avenue, und dann fielen Schüsse. Niemand wusste, wer zuerst geschossen hatte. Das Heimatschutzministerium meldete später, ein Mann in einem schwarzen Jeep habe auf Bundesbeamte gefeuert. Er sei entkommen, ohne Spuren zu hinterlassen.
Was folgte, war kein geordneter Polizeieinsatz, sondern eine Szene wie aus einem innerstaatlichen Ausnahmezustand. Dutzende schwer bewaffnete Agenten des Grenzschutzes sprangen aus ihren Fahrzeugen, stürmten über Parkplätze und Bürgersteige. Nachbarn hielten Handys in die Luft, riefen, schrien, hupten, bliesen in Trillerpfeifen. Die Angestellten einer nahegelegenen Apotheke verriegelten die Türen und duckten sich hinter Regale, nachdem sie Schüsse und den Knall eines Aufpralls gehört hatten. Die Polizei von Chicago traf ein, um „die Lage zu sichern“. Doch was da stattfand, war längst keine Lage mehr, sondern ein Aufeinandertreffen zweier Realitäten – einer Gemeinschaft, die um Ruhe bat, und einer Bundesregierung, die sie in Kriegsrhetorik verwandelte. Laut Polizeibericht wurde kein Zivilist durch Schüsse verletzt. Ein Beamter wurde von einem Pickup-Truck angefahren, leicht verletzt, ins Krankenhaus gebracht. Er hat Glück gehabt.
Die Beamten des Border Patrol hatten es weniger auf Sicherheit als auf Kontrolle abgesehen. In den engen Straßen von Little Village, einem Viertel, das sich in seiner lateinamerikanischen Identität über Generationen hinweg behauptet hat, wirkte ihre Präsenz wie ein feindlicher Einmarsch. Seit Wochen läuft hier eine landesweite Aktion, die in Washington den euphemistischen Namen „Operation Midway Blitz“ trägt – ein Schlag gegen Migrantinnen und Migranten, der längst zum Symbol geworden ist für Trumps Politik der Einschüchterung. Über 3.000 Menschen wurden in den vergangenen zwei Monaten in der Metropolregion Chicago festgenommen. Am Samstagmorgen eskalierte die Gewalt. Der Stadtrat Byron Sigcho-López eilte zum Tatort, nachdem ihm Anwohner berichtet hatten, dass maskierte Bundesbeamte versucht hätten, ein Auto zu durchsuchen, in dem sich ein Vater und ein Kind befanden. „Als wir ankamen“, sagte er später, „wurde ein elfjähriges Mädchen von diesen Männern weggezerrt, und die Nachbarn versuchten, sich schützend um sie zu stellen.“ Ein Satz, der sich in das kollektive Gedächtnis dieser Stadt einbrennen wird. Sigcho-López sagte auch, Zeugen hätten gesehen, wie Agenten die Fensterscheibe eines Autos eingeschlagen hätten. „Schaut euch an, was sie mit unserer Gemeinschaft machen. Seit zehn Uhr morgens terrorisieren sie die Straßen. Das ist traurig. Das ist empörend.“
Agenten steigen aus, richten Waffen, schreien. Ein Mädchen steht auf dem Gehweg, die Hände über den Kopf gelegt, während hinter ihr Tränengas in der Luft hängt. Eine Frau ruft auf Spanisch, die Männer sollen sich zurückziehen. In der Ferne ist das Pfeifen der Anwohner zu hören – der improvisierte Soundtrack einer Stadt, die sich wehrt. Das DHS veröffentlichte am Abend eine Stellungnahme, die in ihrer Sprache so von der Realität entfernt war, dass sie fast spottete: „Dieser Vorfall ist kein Einzelfall, sondern Ausdruck eines gefährlichen Trends von Gewalt und Behinderung.“ Es sei in den letzten Wochen zu zunehmenden Angriffen auf Bundesvollzugsbeamte gekommen. Die Gewalt müsse aufhören. Doch wer Gewalt ausübt, wer sie provoziert, wer sie systematisch in die Nachbarschaften trägt – dazu schwieg das Ministerium. Little Village ist kein „Brennpunkt“. Es ist ein Viertel, in dem Kinder in Schuluniformen auf dem Gehweg zur Kirche laufen, in dem Männer an der Ecke Zeitungen verkaufen und Bäcker schon vor Sonnenaufgang den ersten Kaffee ausschenken. Es ist ein Stück Chicago, das über Jahrzehnte gelernt hat, mit Armut, Rassismus und politischer Vernachlässigung zu leben – aber nicht damit, zum Ziel einer föderalen Militarisierung zu werden. Nachdem die Agenten den Schauplatz verließen, richtete sich der Zorn der Menge gegen die verbliebenen CPD-Beamten, die die Kreuzungen sperrten. „Schande!“ riefen die Menschen, und in ihren Stimmen lag weniger Wut als Erschöpfung – das Gefühl, immer wieder gegen dieselbe Mauer zu laufen. Eine Frau, die sich als Anwohnerin vorstellte, sagte: „Ich bitte sie, endlich runterzufahren. Ich lebe hier. Meine Tochter geht hier zur Schule. Wir wollten nur einkaufen. Ich war gerade bei Walgreens. Es reicht. Das muss aufhören.“
Diese Sätze sind das, was bleibt, wenn Regierungen ihr eigenes Volk als Gegner behandeln. Ein elfjähriges Kind, das weint. Ein Stadtteil, der hustend aus Tränengaswolken auftaucht. Diese Einsätze haben wir zur Genüge selber live erfahren dürfen. Beamte, die sich hinter Paragraphen verstecken. Und ein Land, das so tief gespalten ist, dass selbst die Grenze im eigenen Viertel verläuft. Die Operation heißt Midway Blitz – als sei sie ein Spiel. Doch was sich hier abspielt, ist kein Spiel. Es ist ein moralischer Tiefpunkt. Und Chicago, die Stadt der Stimmen und der Narben, hat ihn am Samstag in all seiner Brutalität erlebt.
In Zahlen: Allein aus diesem einen Fall bearbeiten wir derzeit vier aktuelle Festnahmen, bei denen jede rechtliche Grundlage fehlt. Wir versuchen, diese Menschen wieder aus dem Gefängnis zu holen. Ihr „Verbrechen“? Sie haben nichts getan – und genau das ist die Wahrheit.
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Da wird es mir schlecht ob dieser Bösartigkeit… Wie kann man sich der Ohnmacht gegenüber dieser Mafia erwehren…? 😪😪😪
…dagegenhalten, dokumentieren, den menschen helfen, anwälte holen, recherchieren, gerichte einschalten, das was wir fast den ganzen tag neben den anderen arbeiten noch machen
Das ist das, wovor ich so Angst habe. In Geiselhaft genommen zu werden für etwas, das ich nie gewollt hätte, nie gewählt hätte und niemals mit meinem Gewissen vereinbaren könnte.
In demokratischen Ländern ist manches zäh, manches für einige nicht nachvollziehbar, aber im großen und ganzen durch Gesetze geregelt niemals willkürlich und vor allem nicht menschenunwürdig.
Und ausgerechnet die Menschen, die von sich behaupten dass sie sich niemals etwas sagen lassen, dass sie nie mit dem „mainstream“ schwimmen, die gesellschaftsfähige Menschen als Weicheier beschimpfen, ausgerechnet die wählen die „harte Hand“, die ihnen mit dem Vorschlaghammer auf die Finger haut, wenn sie sich nicht einfügen.
…kann ich verstehen, deshalb organisieren und dokumentieren wir was nur geht, besorgen anwälte und versuche zuerst die menschen rauszuholen, was in rund 80% der fälle auch geklappt hat, dann geht es weiter an das gericht, bis der supreme court bricht und wir alle müssen eben durchhalten und es irgendwie hinbekommen, was echt nicht einfach und man an allem sonstigen sparen muss, um das hinzubekommen