Die Saat des Zorns – Europas verlorene Generation

VonRainer Hofmann

Oktober 27, 2025

Eine Reportage über die Radikalisierung der Jugend zwischen Algorithmen und Angst

Das Konzert

Juli 2025. Unter dem kroatischen Sommerhimmel dröhnt Musik über eine Menschenmasse, die sich bis zum Horizont erstreckt. Eine halbe Million Menschen. Arme recken sich in die Höhe. Aus hunderttausend Kehlen brüllt es: „Za dom spremni!“ – Für unser Vaterland, wir sind bereit.

Marko Perković’s Konzert (Foto: ANTONIO BAT)

Auf der Bühne steht Marko Perković, Künstlername Thompson. Er hebt die Faust. Der Gruß der faschistischen Ustaše, verboten und doch allgegenwärtig, hallt durch die Nacht. Der Präsident distanziert sich später in einer kurzen Erklärung. Im November 2013, kurz nach dem EU-Beitritt des Landes, rief der Fußballspieler Josip Šimunić nach einem Spiel „Za dom“, worauf die Fans im Chor „Spremni“ antworteten – der traditionelle faschistische Ruf der Ustaša-Bewegung. Šimunić wurde daraufhin disqualifiziert und mit 24.000 Kuna (rund 4.400 US-Dollar) bestraft.

Im Jahr 2020 jedoch sprach ein Gericht den Sänger Marko Perković frei, der den Gruß in einem seiner Lieder verwendet hatte. Das Urteil löste breite Empörung aus, setzte aber kein rechtliches Präjudiz. Offiziell bleibt der Ustaša-Gruß weiterhin verboten. Bemerkenswert ist, dass 2024 selbst der Bürgermeister von Dubrovnik die Parole öffentlich von einer Bühne ausrief. Trotz massiver Kritik erklärte er, er schäme sich seiner Worte nicht – „Za dom spremni“ sei Teil der militärischen Symbolik der 1990er Jahre. Konsequenzen hatte auch dieser Vorfall keine. Die EU-Kommission verweist auf nationale Zuständigkeit. Niemand greift ein.

Dies ist Europa im Jahr 2025.

Die Prophetin

Madrid, Frühjahr 2025. Vor der marokkanischen Botschaft versammeln sich zweihundert Menschen. Sie tragen schwarz. Ihre Transparente zeigen gekreuzte Schwerter, alte Symbole der Falange. Eine junge Frau mit dunklen Haaren ergreift das Megafon.

„Tod den Eindringlingen!“, ruft Isabel Peralta. Ihre Stimme schneidet durch den Lärm der Stadt. „Das ist keine Migration – das ist eine Invasion!“

Sie ist dreiundzwanzig Jahre alt. Wochen später steht sie vor Gericht. Ein Jahr Haft wegen Volksverhetzung. Sie zitiert Goebbels in ihrer Schlussrede: „Es wird Menschen geben, die versuchen werden, unseren Weg zu gehen, und sie werden genauso verfolgt werden wie wir. Aber am Ende werden wir triumphieren, denn das, was gut und wahr ist, setzt sich in dieser Welt immer durch.“ Die Presse nennt sie die „Muse der Falangisten“. Sie verteidigt Hitler öffentlich. An der deutschen Grenze wird sie gestoppt, in ihrem Gepäck: ein Exemplar von Mein Kampf und eine Hakenkreuzflagge. Deutschland verbietet ihr die Einreise auf Lebenszeit.

Isabel Peralta, Telegram

Isabel Peralta war Sprecherin von Bastión Frontal – Frontal-Bastion. Die Gruppe entstand 2020, mitten in der Pandemie, geboren aus Isolation und Wut. Sie agierten ausschließlich online: fremdenfeindliche Memes, Verschwörungstheorien, düstere Prophezeiungen über den Untergang Spaniens. Auf X und Instagram sammelten sie über zwanzigtausend Follower. Dann wurden sie gesperrt. Sie wichen auf Telegram aus, wo niemand sie störte. Ihr Feindbild hatten sie schnell gefunden: „menas“ – unbegleitete minderjährige Migranten. Kinder ohne Eltern, die über das Meer kamen. Die Gruppe behauptete, sie kosteten Millionen, bedrohten Frauen, zerstörten die Nation.

Peralta war achtzehn, als sie zur Gallionsfigur von Bastión Frontal wurde. Ihr engster Mitstreiter, Rodrigo Miguélez, war neunzehn. Rund hundert Jugendliche schlossen sich an, die meisten zwischen fünfzehn und fünfundzwanzig. Auf der Straße blieben sie bedeutungslos. Ihre größte Demonstration zählte dreihundert Teilnehmer. 2022 löste sich die Gruppe mangels Geld und Aktivisten auf. Doch Peralta macht weiter. Auf Telegram. Auf TikTok. In Interviews.

Nach dem Zerfall der früheren Strukturen blieb Isabel Peralta eine zentrale Figur der spanischen Neonazi-Szene. In Spanien tritt nun die Organisation Núcleo Nacional nach außen als Kultur- und Sportverein auf. Tatsächlich bietet sie jungen Menschen körperliches Training an – jedoch mit klarer ideologischer Prägung. Die Rekrutierung erfolgt in den Kursen für Nahkampf und Selbstverteidigung. Angeführt wird die Gruppe von Isabel Peralta – gemeinsam mit Enrique Lemus und Iván Rico. Lemus gilt als Veteran der extremen Rechten und ist europaweit vernetzt; Rico wiederum tritt ausschließlich maskiert auf und ist der Öffentlichkeit bislang anonym geblieben.

Núcleo-Nacional-Hauptquartier, Telegram

Die Trainer bezeichnen ihre Übungen offen als Vorbereitung auf den „Schutz der Nation“. In ihrem Hauptquartier hängen Porträts Adolf Hitlers, und auch in den sozialen Medien machen sie keinen Hehl aus ihrer Gesinnung. Auf Telegram verbreitet Núcleo Nacional Videos, in denen Migranten und linke Aktivisten als Feinde dargestellt werden. Einige Clips rufen unverblümt zur „aktiven Verteidigung der Straßen“ und zum „Widerstand gegen feindliche Elemente“ auf. Núcleo Nacional eröffnet derzeit neue Ableger in mehreren Städten und betreibt eine aggressive Social-Media-Kampagne. Die Zahl der aktiven Mitglieder liegt laut Polizei jedoch noch bei unter 300. Sicherheitsbehörden beschreiben die Organisation als paramilitärisch strukturiert. Der Nährboden für diese Bewegung ist bekannt: wirtschaftliche Unsicherheit. Spanien hat eine der höchsten Jugendarbeitslosenquoten Europas und mit durchschnittlich 30,4 Jahren das zweithöchste Alter beim Auszug aus dem Elternhaus – nur in Kroatien, Griechenland und der Slowakei ist die Lage noch schwieriger.

Spanien ist ein Land der Gegensätze. Offiziell boomt die Wirtschaft – viermal schneller als der EU-Durchschnitt. Doch die Jugendarbeitslosigkeit gehört zu den höchsten Europas. Junge Menschen leben bis dreißig bei ihren Eltern. In manchen Städten verschlingt die Miete über neunzig Prozent des Einkommens. Die meisten arbeiten in prekären Verhältnissen. Während die Zahlen steigen, bleibt das Leben hart. In diese Leere stößt die rechtsextreme Partei Vox. Sie verspricht billige Wohnungen, Arbeitsplätze, Abschiebungen. Parteichef Santiago Abascal inszeniert sich auf TikTok als Verteidiger der spanischen Identität. Bei den Achtzehn- bis Fünfundzwanzigjährigen ist Vox die beliebteste Partei – 17,4 Prozent Zustimmung. Die Jungen glorifizieren die Franco-Ära. Damals, so erzählen sie sich, herrschte Ordnung. Damals hatte jeder Arbeit. Es ist eine Lüge. Aber Lügen haben Beine.

Die Schattenkämpfer

Deutschland, 2024. In einem Vorort entstand eine neue Gruppe. Sie nennen sich Jung & Stark. Ihr Logo zeigt einen stilisierten Löwen. Sie rekrutieren Vierzehnjährige. Viele sind noch Schüler. Jung & Stark wurde 2024 gegründet und war bereits nach einem Jahr so bekannt, dass sie die Aufmerksamkeit der Polizei auf sich zog. Die Organisation funktioniert nach einem Franchise-Prinzip – einem dezentralen Modell mit Dutzenden kleiner Zellen, die über Messenger-Apps miteinander vernetzt sind. Es gibt keine zentrale Führung, die man einfach verbieten könnte.

Deutsche Jugend Voran, Telegram

Ihr Hauptfeind sind nicht Migranten. Es sind queere Menschen. Sie organisieren Gegendemonstrationen zu Pride-Veranstaltungen, rufen homophobe Parolen und filmen sich dabei. Jede Aktion wird online zu Content, jeder Auftritt ein Baustein digitaler Propaganda. Obwohl Jung & Stark und die Schwestergruppe Deutsche Jugend Voran (DJV) bisher keine Veranstaltungen ernsthaft stören konnten, ist das kein Misserfolg. Jede ihrer Aktionen wird zur Übung in digitaler Mobilisierung, jeder Auftritt erzeugt Reichweite, Likes, Resonanz.

Parallel formiert sich Deutsche Jugend Voran – DJV. Kampfsport, paramilitärische Symbolik, harte Rhetorik. Im April 2025 wird der vierundzwanzigjährige Anführer zu drei Jahren Haft verurteilt. Er hatte einen Journalisten schwer verletzt. Um Komplizen zu identifizieren, ließ die Polizei ihn zwei Monate lang nach dem Urteil auf freiem Fuß – ohne Ergebnis.

Deutsche Jugend Voran, Telegram

Das Bundesamt für Verfassungsschutz warnt vor zunehmender Radikalisierung junger Männer. Laut Behörden sind diese Gruppen hochgradig anonym organisiert, schwer zu überwachen und zunehmend bereit, Gewalt anzuwenden. 2024 wurden in Deutschland 37.835 rechtsextrem motivierte Straftaten registriert – mehr als hundert pro Tag. Die Zahl der als gewaltbereit eingestuften Rechtsextremisten überstieg 15.000. Die Szene sortiert sich aktuell neu. Nachdem die Junge Alternative – Jugendorganisation der AfD – im März 2025 als rechtsextrem eingestuft und aufgelöst wurde, entstehen neue Strukturen. Ehemalige Funktionäre gründen Vereine mit harmlos klingenden Namen, Kultur- und Sportvereine, Gemeinschaften für „deutsche Werte“, in denen politische Indoktrination und körperliche Abhärtung verschmelzen.

Bis zu ihrer Auflösung zählte die Junge Alternative 16 Landesverbände und rund 2.500 Mitglieder. Sie pflegte enge Kontakte zu anderen rechtsextremen Gruppen, warb öffentlich, nahm an Straßenprotesten teil und verbreitete xenophobe Propaganda. Sie galt lange als radikaler als die Mutterpartei selbst – und wurde genau deswegen verboten. Doch kurz darauf begann die AfD, eine neue Jugendorganisation aufzubauen, diesmal offiziell innerhalb der Parteistruktur.

In Deutschland hält der Rechtsruck beziehungsweise die rechtskonservative Verschiebung an. Ein Grund dafür liegt in ausufernden Debatten, die oft an den eigentlichen Problemen vorbeigehen – etwa am monatlichen Verlust von rund 10.000 Arbeitsplätzen und an der schwindenden Wettbewerbsfähigkeit zentraler Industrien. Paradoxerweise hat auch die „Geiz-ist-geil“-Mentalität zu dieser Entwicklung beigetragen: Jahrzehntelanger Preisdruck, Lohndumping und der Drang nach immer billigeren Produkten haben soziale Ungleichheiten vertieft und das Vertrauen in faire wirtschaftliche Strukturen untergraben.

Im Mai 2025 stufte der Verfassungsschutz dann auch die AfD selbst als rechtsextremistische Organisation ein. Damit dürfen Nachrichtendienste sie verdeckt beobachten und Informanten anwerben – ohne dass die Partei ihre politische Tätigkeit verliert. Die AfD wurde nicht durch ein Gericht verboten, sondern vom Verfassungsschutz eingestuft. Ein Parteienverbot müsste noch über das Bundesverfassungsgericht erfolgen. Die AfD testet die Grenzen des Sagbaren. Ihre Funktionäre verschieben den Diskurs, sprechen von „Schuldkult“ und fordern, dass Deutschland „aufhören müsse, sich für die Vergangenheit zu entschuldigen“. Damit relativieren sie nicht nur Geschichte, sie unterminieren die Erinnerungskultur.

Deutschland zählt heute nur noch etwa sechs Millionen Menschen über achtzig Jahre – diejenigen, die den Krieg selbst erlebt haben. Das kollektive Gedächtnis hängt nicht mehr an Familiengeschichten, sondern an Medienbildern. Diese Entkopplung von Erfahrung und Erzählung öffnet Raum für Revisionismus – und für die Idee, man dürfe wieder stolz sein. Trotzdem bleibt die Mehrheit der Jugendlichen optimistisch und vertraut den Institutionen. Doch laut Studien ist etwa die Hälfte – besonders in Ostdeutschland – unzufrieden und desillusioniert. Diese Gruppe gilt als besonders anfällig für Populismus.

Wirtschaftliche Unsicherheit trifft auf soziale Entfremdung. Die Shell-Jugendstudie 2024 zeichnet ein widersprüchliches Bild: Zwei Drittel der Jugendlichen verurteilen den russischen Angriffskrieg, zwei Drittel befürworten die NATO. Doch nur die Hälfte unterstützt militärische Hilfe für die Ukraine. In Ostdeutschland sind diese Werte noch niedriger. Beim Gaza-Krieg spaltet sich die Generation: Ein Drittel unterstützt Deutschlands Position an Israels Seite, ein Drittel lehnt sie ab, ein Viertel ist unentschieden. Über achtzig Prozent fürchten einen Krieg in Europa. Ebenso viele sorgen sich um Armut und wirtschaftliche Instabilität.

Und doch: Die Mehrheit in ihrer Gesamtheit bleibt noch optimistisch. Vertraut dem Staat. Zeigt Toleranz. Etwas über 50 % glauben, dass Deutschland ihnen faire Chancen bietet. Deutschland gehört weiterhin zu den Ländern mit der höchsten Zustimmung zur gleichgeschlechtlichen Ehe weltweit. Ablehnung gegenüber Minderheiten bleibt gering – laut Umfragen äußern 18 % negative Ansichten über Syrer, 14 % über Türken und 14 % über Homosexuelle. Diese Diskrepanz – Optimismus und Angst, Vertrauen und Orientierungslosigkeit – ist der Spalt, in den rechtsextreme Gruppen ihre Keile treiben.

Die Eroberer

Frankreich hat seit 2017 über vierzig rechtsextreme Organisationen verboten. Die Szene lebt trotzdem. Nach Angaben des französischen Innenministeriums wurden seit 2017 insgesamt 46 rechtsextreme Gruppen aufgelöst – sechs davon in den Jahren 2024 und 2025. Die tatsächliche Zahl der Neugründungen ist unbekannt, da französische Neonazis ihre Namen häufig ändern, sich aufspalten oder zusammenschließen, ohne sich jemals offiziell registrieren zu lassen. Zellen bilden sich um Sportvereine, Kampfsportstudios, Bars und studentische Arbeitsgruppen. Vielleicht die einzige Neonazi-Organisation mit einem eigenen Hauptsitz ist Tenesoun – mit weniger als hundert Mitgliedern, aber hoher medialer Sichtbarkeit.

Tenesoun, Telegram

In Aix-en-Provence betreibt Tenesoun ein Kulturzentrum. Boxclub, Bar, Vortragsraum, sogar ein Garten. Offiziell sind sie eine ökologische Gemeinschaft. Sie sprechen von Lokalismus, Nachhaltigkeit, Verbundenheit zur Heimat. Ihr Emblem zeigt einen Biber – Symbol für Fleiß und Gemeinschaft. Hinter der Fassade: Nationalismus, ethnische Reinheit, „ökologischer“ Rassismus. 2022 waren Mitglieder in einen Angriff auf einen linken Aktivisten verwickelt. Dennoch hat das Innenministerium bislang keine Auflösung verfügt – ein solcher Schritt erfordert klare Beweise, die offenbar fehlen.

Hübsche Naturbilder täuschen nicht über die Ideologie dieser Gruppe hinweg – Tenesoun, Telegram

Politisch profitieren sie vom Erfolg des Rassemblement National. Parteichef Jordan Bardella ist dreißig Jahre alt und TikTok-Star. Zwei Millionen Follower. Über eine halbe Million Erstwähler stimmten 2024 für seine Liste. Der RN erzielte bei den Europawahlen ein „historisches“ Ergebnis: 31 Prozent der Stimmen, 30 von 81 Sitzen.

Parallel verliert die Partei Reconquête! von Éric Zemmour an Einfluss – nach inneren Machtkämpfen und juristischen Kontroversen über seine Aussagen zu Migranten. Bei den Europawahlen 2024 erreichte sie nur 5,5 Prozent und fünf Sitze, kurz darauf spaltete sich die Fraktion. Die „Bardella-Generation“ ist kein Rand mehr. Sie ist Mainstream. Experten warnen, der Wahlerfolg der extremen Rechten ermutige radikale Gruppen – andere sehen darin ein Symptom sozialer Erschöpfung. Ein Heilmittel hat bislang niemand gefunden.

Frankreichs Rechte gewinnt kulturell, lange bevor sie regiert.

Die Erben

Rom, 2008. In einem besetzten Gebäude im Stadtteil Esquilino hissen Aktivisten eine schwarze Fahne. Darauf steht: CasaPound Italia. Benannt nach Ezra Pound, dem faschistischen Dichter. Gegründet von Gianluca Iannone, der in den siebziger Jahren in der Szene von Terza Posizione aktiv war – einer neofaschistischen Organisation, die Bombenanschläge verübte. CasaPound verehrt Mussolini offen. Sie besetzen Wohnungen, verteilen Essen, helfen Familien. Sie präsentieren sich als soziale Bewegung. Dahinter steht ein klarer ideologischer Kern: Faschismus als spirituelle Erneuerung, als dritter Weg zwischen Kapitalismus und Kommunismus. Die Gruppe betreibt über hundertfünfzig Ortsgruppen in ganz Italien. Kampfsportstudios, Medienprojekte wie Radio Bandiera Nera, Jugendorganisationen. Blocco Studentesco fordert ein „nationales Erziehungssystem“ und die Abschaffung privater Schulen. Die Ideologie ist hybrid. Faschistisch, sozial, popkulturell. Sie berufen sich auf Julius Evola und Giovanni Gentile, zitieren aber auch linke Revolutionäre. Sie propagieren den „hippen Faschismus“ – Musik, Mode, Tattoos, soziale Medien.

CasaPound präsentiert sich als hilfsbereite Gemeinschaft: Sie verteilen Lebensmittel, pflanzen Bäume, helfen bei Naturkatastrophen. Diese Inszenierung dient der Imagepflege – und der Rekrutierung. Sie zieht Jugendliche an, die soziale Ungerechtigkeit spüren, aber in den falschen Händen landen. Gleichzeitig häufen sich Strafverfahren wegen Körperverletzung, Raub und faschistischer Propaganda. Gewalt gehört zum Selbstverständnis. Straßenkämpfe, Angriffe auf Journalisten, paramilitärische Trainings. Das Ideal ist der „epische Krieger“: diszipliniert, schmerzresistent, heroisch. Mitglieder schlagen sich in Initiationsritualen gegenseitig mit Gürteln, um Widerstandskraft zu beweisen. International ist CasaPound vernetzt: mit der griechischen Goldenen Morgenröte, dem ukrainischen Asow-Regiment, russischen Ultranationalisten um Alexander Dugin. Sie bewundern Putins Russland als spirituellen Verbündeten. Ihre Ideen kreisen um ethnische Reinheit, Kultur, Identität. Ohne das Wort „Rasse“ zu benutzen. Sie nennen es „Ethnopluralismus“: jedes Volk für sich.

2018, Macerata. Ein CasaPound-Anhänger namens Luca Traini schießt auf sechs Schwarze. Sein Name taucht später auf der Waffe des Christchurch-Attentäters Brenton Tarrant auf. Mehr als fünfzehn Jahre nach ihrer Gründung ist CasaPound tief in Italiens Subkultur verankert. Medial präsent. International vernetzt. Ihr Einfluss reicht weit über Parteigrenzen: in Jugendmilieus, Popkultur, Online-Foren. Der „Faschismus des dritten Jahrtausends“ ist keine Randerscheinung. Er ist ein Versuch, Geschichte zu wiederholen – getarnt als Revolte.

Doch Italiens Szene endet hier nicht. Im Juni 2024 deckte eine Recherche über Gioventù Nazionale – die Jugendorganisation von Giorgia Melonis Partei Fratelli d’Italia – auf, dass Aktivisten dort offen den „römischen Gruß“ zeigten und Politiker jüdischer Herkunft verspotteten. Der Skandal führte zu Rücktritten und einer landesweiten Debatte über die Nähe zwischen Regierung und extrem rechter Jugend. Die italienische Verfassung ist in diesem Punkt eindeutig: „Die Wiedergründung einer aufgelösten faschistischen Partei ist verboten.“ Doch das Gesetz wird kaum angewendet – seit 1952 nur drei Mal. Zum Vergleich: Frankreich hat in den letzten Jahren über vierzig rechtsextreme Gruppen verboten.

In Italien tarnen sich viele dieser Organisationen als Kulturvereine oder Bildungsinitiativen. CasaPound bleibt dabei die sichtbarste – mit geschätzten sechstausend Mitgliedern und mehr als hundertfünfzig Zellen. Doch in ihrem Schatten entstehen gefährlichere Netzwerke im Netz. Besonders auf Telegram, wo Gruppen wie die Werwolf Division agieren – benannt nach der Untergrundorganisation der Nazis in den letzten Kriegstagen.

Werwolf Division

Im Dezember 2024 nahm die Polizei zwölf Personen fest, durchsuchte Wohnungen in mehreren Städten, beschlagnahmte Waffen und NS-Symbole. Die Ermittler werfen den Verdächtigen vor, Anschläge geplant zu haben – unter anderem auf Premierministerin Giorgia Meloni. Die Gruppe hatte sich über Telegram organisiert, dort Propaganda verbreitet und den bewaffneten Widerstand diskutiert. Meloni selbst versucht, sich von den totalitären Strömungen in ihrer Partei zu distanzieren. Sie betont, es gebe „keinen Platz für Nostalgie nach den Regimen des 20. Jahrhunderts“. Und doch holen sie die Schatten der Vergangenheit immer wieder ein – ihre früheren Lobreden auf Mussolini, die Symbolik, die Rhetorik. Unter ihrer Regierung wurden erstmals vermehrt Verfahren wegen faschistischer Gesten eröffnet. Der „römische Gruß“ steht inzwischen wieder unter Strafe.

Die Maschine

Hinter all dem steht eine Infrastruktur, die keine Fahnen trägt und keine Reden hält. Sie funktioniert leise, präzise, unermüdlich. Soziale Medien sind das Rückgrat dieser neuen Rechten.

Auf TikTok, Instagram, Telegram, X verbreiten sich rechte Narrative in der Sprache der Jugendkultur: Clips, Memes, Sounds, ironische Videos. Rechtsextreme Inhalte werden algorithmisch bevorzugt, weil sie Emotionen auslösen – Empörung, Angst, Stolz. Studien zeigen, dass TikToks Empfehlungsalgorithmus in wenigen Minuten in politische Extreme führt. Wer sich für „Vaterland“, „Kultur“, „Männerrechte“ oder „Grenzschutz“ interessiert, bekommt nach kurzer Zeit Inhalte aus rechten Echokammern angezeigt. Was als virales Motiv beginnt, endet als Weltbild.

Die Studie (pnas.org) zeigt, dass X/Twitter-Algorithmen politische Inhalte unterschiedlich stark verstärken. In sechs von sieben untersuchten Ländern – darunter die USA, Großbritannien, Frankreich, Spanien, Kanada und Japan – wurden Beiträge rechter Parteien deutlich stärker algorithmisch verbreitet als die ihrer linken Gegenstücke. Nur in Deutschland war der Unterschied zwischen SPD und CDU/CSU statistisch nicht signifikant. Die Zahlen für 2025 dürften das aber stark verändern.

Innerhalb der Parteien variiert die Verstärkung einzelner Politiker stark: Einige Profile erreichen ein Vielfaches ihrer normalen Reichweite, andere kaum Zuwachs. Insgesamt belegt die Analyse jedoch, dass rechte Parteien im Durchschnitt stärker vom Empfehlungsalgorithmus profitieren als linke.

Rechtsextreme Gruppen nutzen das gezielt. Sie tarnen sich als Fitness-Coaches, Gamer, Lifestyle-Blogger. Hinter dem Hashtag #TradLife – „traditionelles Leben“ – verbergen sich nationalistische, antifeministische, homophobe Inhalte. Das Narrativ: Die Welt ist im Niedergang. Männer müssen stark werden, um sie zu retten.

Telegram dient als Rückzugsraum. TikTok als Rekrutierungsplattform. Instagram als Schaufenster. Die Rollen sind verteilt, die Ästhetik vereinheitlicht. Doch TikTok ist nur der sichtbare Teil. Facebook, X, YouTube bleiben zentrale Multiplikatoren, weil sie Netzwerkeffekte und emotionale Verstärkung kombinieren. 2021 sagte die Whistleblowerin Frances Haugen vor dem US-Senat aus: Facebooks Algorithmen „schaden Kindern, spalten Gesellschaften und schwächen Demokratien“. Der Konzern wisse um die Gefahren, bevorzuge aber Profit vor Verantwortung.

Soziale Netzwerke setzen systematisch auf Engagement – auf Interaktion. Inhalte, die Empörung auslösen, werden algorithmisch belohnt, weil sie Reaktionen erzeugen. Trollfarmen, rechte Influencer, politische Akteure nutzen das gezielt. Experimente zeigen die Mechanik. Das Spiel „Fakey“, entwickelt von US-Forschern, simuliert Social-Media-Feeds: Wenn Nutzer Likes und Shares sehen, bevor sie Inhalte bewerten, teilen sie Falschinformationen häufiger. Sichtbare Popularität senkt die Skepsis.

Die „Weisheit der Vielen“ funktioniert online nicht mehr – weil es keine unabhängigen Quellen gibt, sondern miteinander vernetzte digitale Bunker. Menschen ahmen die Reaktionen anderer nach. Algorithmen verstärken die sichtbarsten davon. So entsteht eine Rückkopplung von Emotion und Desinformation. Eine groß angelegte Studie auf X mit achtundfünfzig Millionen Nutzern in sieben Ländern zeigte 2023: Rechte Parteien und Medieninhalte werden durch algorithmische Personalisierung deutlich stärker verstärkt als linke. In sechs von sieben Ländern – USA, Frankreich, Spanien, Kanada, Großbritannien, Japan – profitierten konservative Parteien messbar von algorithmischer Reichweite. Nur in Deutschland war der Effekt statistisch nicht signifikant.

Die Forscher analysierten 6,2 Millionen Nachrichtenartikel und Millionen Tweets. Ergebnis: Inhalte der politischen Rechten wurden häufiger angezeigt, erreichten größere Zielgruppen, erzielten bis zu zweihundert Prozent höhere Sichtbarkeit als auf chronologisch sortierten Feeds. Die Erklärung liegt im System: Engagement-basierte Modelle belohnen Intensität, nicht Qualität. Wer stärker polarisiert, gewinnt Sichtbarkeit. Soziale Medien sind keine neutralen Spiegel gesellschaftlicher Meinungen. Sie sind Verstärker emotionaler Extreme. Was früher Flugblätter waren, sind heute Filter. Was früher Propaganda hieß, ist heute Content.

Das Spannungsfeld

Europas Jugend steht zwischen zwei Welten. Auf der einen Seite: wirtschaftliche Unsicherheit, Zukunftsangst, Orientierungslosigkeit. Prekäre Jobs, unbezahlbare Mieten, das Gefühl, ausgeschlossen zu sein vom Wohlstandsversprechen ihrer Eltern. Auf der anderen Seite: ein digitales Ökosystem, das Angst in Wut verwandelt, Wut in Identität, Identität in Bewegung. Die Zahlen sprechen verschiedene Sprachen. Die Mehrheit der jungen Generation bleibt demokratisch, tolerant, optimistisch. Sie vertrauen Institutionen. Sie glauben an Chancen.

Doch in den Spalten dieser Gesellschaft wachsen Strukturen, die nicht laut sind, aber beständig. Kleine Gruppen, die über soziale Netzwerke eine Wirkung entfalten, die weit über ihre reale Größe hinausgeht. Ihre dezentrale Struktur macht sie schwer fassbar – und politisch gefährlich. Sie sprechen die Sprache ihrer Generation. Sie verstehen die Mechanik der Plattformen. Sie wissen, wie man Emotionen triggert, Identitäten formt, Narrative setzt. Und sie haben Zeit. Denn während Parlamente über Verbote debattieren, Gerichte Urteile sprechen und Nachrichtenseiten Schlagzeilen produzieren, läuft auf Millionen Bildschirmen die nächste Welle an. Ein Clip. Ein Propagandabild. Ein Kommentar.

Algorithmen sortieren. Emotionen verstärken sich. Echokammern wachsen. Und irgendwo, in einem Vorort, in einem Jugendzimmer, auf einem Smartphone, wird ein Fünfzehnjähriger zum ersten Mal das Gefühl haben, verstanden zu werden. Das ist der Moment, in dem alles beginnt.

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Irene Monreal
Irene Monreal
1 Stunde zuvor

Vielen Dank für diesen Artikel! Ich habe einiges noch für mich selbst nachgelesen, worüber ich bisher noch viel zu wenig wusste, deshalb bin ich immer sehr dankbar für Deine komplexen Berichte und Zusammenhänge.
Es läuft immer wieder auf das Gleiche hinaus: Nichtwissen und das Schüren von Feindbildern führen zu Faschismus. Zu Unterdrückung, Vertreibung und Ermordung von Menschen, die sich nicht wehren können und zur Ausmerzung politischer Feinde, die noch ein Menschenbild haben. Das ganze führt früher oder später IMMER zu einem Knall, und zu einem Geschichtseintrag, der so mächtig und monströs ist, dass er im besten Fall wieder für ca. ein Menschenleben lang (bis die Erinnerung verblasst), die Grundlage des Wissens bildet um Faschismus zu verhindern.

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