Es beginnt mit einem Handschlag. Zwei Frauen lächeln in die Kamera – als wäre nichts. Mette Frederiksen in Himmelblau, Giorgia Meloni im Beige der Unschuld. Doch was dieses Foto dokumentiert, ist kein diplomatischer Höflichkeitsbesuch. Es ist ein Meilenstein auf dem Weg zurück. Zurück in eine Zeit, in der Menschenrechte keine Verpflichtung, sondern ein Verhandlungsgegenstand waren. Ein Rückschritt, getragen von neun EU-Staaten, die am Fundament sägen, auf dem Europa sich nach Auschwitz, Srebrenica und Abu Ghraib mühsam wieder aufgebaut hatte: der Europäischen Menschenrechtskonvention.
Dass Alice Weidel diesen Moment mit Inbrunst bejubelt – man darf es fast erwarten. „Diese wichtige Initiative muss Deutschland unbedingt unterstützen“, schreibt die Fraktionsvorsitzende der AfD. Die Maske fällt nicht mehr. Die Menschenrechte stehen im Weg? Gut so, dann räumen wir sie beiseite. Hauptsache, der „Migrationswende“ steht nichts mehr im Weg – kein Artikel 3, kein Gerichtshof in Straßburg, keine moralische Verpflichtung gegenüber dem Anderen. Die Rechten rufen, und die Mitte schweigt.
Denn wer genau hinsieht, erkennt: Diese Initiative kommt nicht nur von den üblichen Verdächtigen. Es sind nicht bloß Ungarn und Polen, nicht nur Orbán und Konsorten. Es ist Dänemark – sozialdemokratisch regiert. Es ist Italien – geführt von einer postfaschistischen Partei, die längst salonfähig geworden ist. Es ist eine neue Allianz der Entschlossenen, deren Ziel nicht der Schutz, sondern die Entwertung des Schutzes ist. Und der Preis? Die Unantastbarkeit des Menschen.
Der Kern dieser neuen „Überprüfung“ ist so zynisch wie durchsichtig: Man will abschieben dürfen, egal wohin. Auch in Staaten, in denen Folter Alltag ist. In Lager, die vor Elend stinken. Zu Regimen, die Oppositionelle vergasen und Homosexuelle steinigen. Und man will das alles – ohne von einem Gericht dafür zur Rechenschaft gezogen zu werden. Straßburg, raus aus dem Spiel. Menschenrechte? Ja, aber bitte nicht, wenn sie stören.
Dass die Europäische Menschenrechtskonvention kein bloßes Ideal ist, sondern eine harte, rechtlich bindende Norm, scheint dabei zum Problem geworden zu sein. Sie schützt nicht nur vor Tyrannen, sondern auch vor populistischen Kurzschlusshandlungen. Und genau deshalb gerät sie ins Visier. Denn in der neuen Logik der Macht zählt nicht mehr, was recht ist, sondern was nützlich ist. Menschenrechte – sofern kompatibel mit den Umfragewerten.
Es ist eine Abwärtsspirale, deren Dynamik brandgefährlich ist. Wer heute sagt, die EMRK sei zu streng, sagt morgen, die Genfer Flüchtlingskonvention sei überholt. Und übermorgen? Vielleicht ist dann auch das Asylrecht nur noch ein „Missbrauchsvehikel“, die Pressefreiheit „linker Aktivismus“, das Demonstrationsrecht ein Sicherheitsrisiko. Schritt für Schritt entkernen wir die freiheitliche Ordnung – und tun so, als sei das ein Fortschritt.
Diese Entwicklungen sind keine abstrakten Debatten. Sie betreffen reale Menschen: Schutzsuchende, die aus libyschen Folterzellen fliehen. Frauen, die in Afghanistan nicht einmal mehr einen Schulweg beschreiten dürfen. Dissidenten, die in Belarus verschwinden, weil sie sprechen. Und Europa? Verhandelt, wie viel Würde man ihnen noch zugestehen will. Vielleicht 70 Prozent. Vielleicht 30. Vielleicht gar keine mehr.
Die Ironie ist kaum auszuhalten: Eine Union, die sich „Wertegemeinschaft“ nennt, diskutiert nun öffentlich, ob der Mensch noch ein Recht auf Unversehrtheit hat – oder ob das zu viel verlangt sei in Zeiten politischer Panik. Die Rhetorik der Rechten hat längst das Zentrum infiltriert. Sie kommt nicht mehr nur mit Wut, sondern mit Anzügen, Regierungspapieren und „Pragmatismus“. Man spricht nicht mehr vom „Ausmisten“, sondern von „Neubewertung“. Und doch meint man dasselbe.
Was jetzt geschieht, ist nicht nur ein Angriff auf einen Vertrag von 1950. Es ist ein Angriff auf das europäische Selbstbild. Wenn Europa fällt, fällt es nicht an einem Tag. Es fällt in Etappen. Es fällt im Ministerrat, im Innenausschuss, in Tweets wie dem von Weidel, in Sitzungen ohne Medien und Berichte ohne Empörung. Es fällt leise – aber stetig.
Was bleibt, ist ein Bild: Zwei Politikerinnen, die sich die Hand reichen. Und dahinter ein Fresko – ein Reiter mit gezücktem Schwert, eine heroische Pose. Symbolik aus einer anderen Zeit. Vielleicht ist das das Bild, das wir verdienen. Eines, das uns später fragt: Wo wart ihr, als Europa begann, seine Menschenrechte zurückzunehmen?
