Das Rätsel Joshua Jahn – was die Recherchen offenlegen

VonRainer Hofmann

September 25, 2025

Der tödliche Scharfschützenangriff auf ein ICE-Gebäude in Dallas schien auf den ersten Blick eine klare Botschaft zu tragen. Auf nicht abgefeuerten Patronenhülsen, die das FBI am Tatort sicherstellte, war „ANTI-ICE“ eingraviert. FBI-Direktor Kash Patel veröffentlichte nur wenige Minuten nach den Schüssen auf X ein Foto der Beweismittel und sprach von einem ideologischen Motiv. Präsident Trump wiederum nutzte den Vorfall, um die „radikale Linke“ zu attackieren und ein weiteres Dekret zur Bekämpfung sogenannter „Domestic Terrorism Networks“ anzukündigen. Sein Vize, J.D. Vance, erklärte öffentlich, es gebe „Beweise, die wir noch nicht veröffentlichen können“, die für ein politisches Motiv sprächen.

Kaum ein Wort wurde bisher über den Getöteten verloren, auch über die beiden Verletzten herrscht weitgehend Schweigen – einer von ihnen ist ein mexikanischer Staatsbürger. Es scheint der Regierung in Washington gleichgültig, dass Menschenleben ausgelöscht oder schwer gezeichnet wurden. Stattdessen konzentriert sich die öffentliche Kommunikation ausschließlich auf den Täter, dessen Geschichte nun bis ins Detail ausgeschlachtet wird, um politische Botschaften zu verstärken. Das Leid der Opfer wird zur Fußnote degradiert, die Tat selbst zum Instrument einer Agenda. Diese Kälte gegenüber den Betroffenen, verbunden mit der gierigen Vereinnahmung der Bluttat durch die politische Spitze, offenbart nicht nur Prioritäten, sondern auch den Zynismus eines Systems, das Gewalt in erster Linie als rhetorische Waffe begreift.

Doch sobald man die öffentliche Rhetorik hinter sich lässt und mit Menschen spricht, die den 29-jährigen Täter Joshua Jahn seit Schulzeiten kannten, beginnt das Bild zu bröckeln. Langjährige Freunde, die ihre Verbindung mit Fotos und Dokumenten belegten, beschrieben keinen überzeugten politischen Aktivisten, sondern vielmehr einen Menschen, der Ironie und Provokation kultivierte – und dessen Leben sich zunehmend in digitale Parallelwelten verschob.

Joshua Jahn

Die Familie von Joshua Jahn ringt noch immer mit dem Unfassbaren. Seine Mutter Sharon, 65, pensionierte Administratorin einer Massageschule in Plano, brach am Telefon in Tränen aus und konnte kaum ein Wort sagen. Sein Vater Andrew „Andy“, ebenfalls 65 und ein ehemaliger Maschinenbauingenieur, war für Anfragen nicht erreichbar. Jahn hinterlässt außerdem eine 26-jährige Schwester, Kioko, und einen 30-jährigen Bruder, Noah. Auch Noah zeigte sich zutiefst erschüttert, sprach von ständigen Kontakten mit der Polizei und davon, das Geschehen selbst noch nicht fassen zu können. Er betonte sein Bruder sei nie besonders politisch gewesen und habe keine starken Ansichten zu ICE gehabt. Zwar besaß die Familie ein Gewehr und Joshua habe damit umgehen können, doch sei er keineswegs ein geübter Scharfschütze gewesen.

Vater Andrew, Bruder Noah und Joshua Jahn

Joshua Jahn wuchs in Nordtexas auf, seine Familie lebte in Allen und Fairview. Er begann ein Studium an der University of Texas at Dallas, schrieb sich später erneut am Collin College ein, doch eine klare akademische Laufbahn zeichnete sich nicht ab. Auch beruflich blieb sein Weg brüchig: zeitweilig angestellt bei einem Solarunternehmen in Texas, später zog er mit dem Wagen quer durchs Land und arbeitete für einige Monate auf einer legalen Cannabisfarm im Bundesstaat Washington. Es war ein Leben zwischen Ansätzen und Abbrüchen, zwischen kurzfristigen Beschäftigungen und längeren Phasen der Orientierungslosigkeit.

Ein Bild aus besseren Tagen im Leben von Joshua Jahn

Politisch blieb Jahn eher uninteressiert. Er war als unabhängiger Wähler registriert, in den Unterlagen taucht lediglich eine Teilnahme an einer demokratischen Vorwahl auf – weniger als Ausdruck fester Überzeugungen, sondern eher als episodischer Versuch, ein politisches Spiel von innen zu betrachten. Von klaren Haltungen oder einem ideologischen Profil berichtete niemand aus seinem Umfeld.

Mutter Shanon und Schwester Kioko Jahn

Auch sein Strafregister zeichnet kein Bild des gewalttätigen Extremisten. 2016 wurde er in Collin County wegen der Lieferung von Marihuana angeklagt. Er legte ein Schuldeingeständnis ab und erhielt fünf Jahre Bewährung, verbunden mit einer Geldstrafe und einer geringen Wiedergutmachungszahlung. Die Bewährung wurde vorzeitig aufgehoben, nachdem er alle Auflagen erfüllt hatte. Weitere Einträge finden sich nicht, weder Gewaltdelikte noch politisch motivierte Straftaten. Vor diesem Hintergrund wirkt die Tat von Dallas wie ein Bruch – ein eruptiver Ausbruch, der in keinem Verhältnis zu dem dokumentierten Leben davor steht und dessen Widersprüchlichkeit die Ermittler wie auch die Öffentlichkeit bis heute beschäftigt.

„Josh war ein Edgelord“, sagt einer von ihnen. „Ein Typ, der alles ins Gegenteil verdrehte, der mit Ironie provozierte, selbst wenn es ihn Freundschaften kostete.“ Das Wort „edgelord“ stammt aus dem Netzjargon: jemand, der bewusst mit Tabus spielt, übergriffige Witze macht und damit Grenzen überschreitet. Genau das, so berichten seine Bekannten, habe Jahn jahrelang betrieben. Seine Interessen galten Videospielen, Memekultur und der anonymen Plattform 4chan. Mehr als 6.000 Stunden verbrachte er auf „Rust“, über 3.000 auf „Team Fortress 2“. Sogar in den letzten Wochen, so zeigt sein öffentliches Steam-Profil, loggte er sich noch für einige Stunden ein. Politik im klassischen Sinn interessierte ihn kaum, weder Trump noch die Demokraten. Wenn er sich äußerte, dann ironisch gebrochen – halb ernst, halb Spott. Ein alter Benutzername lautete „#Impeachment“. Seine Freunde widersprechen entschieden der Deutung, das sei Ausdruck eines politischen Programms gewesen. „Das war typisches Josh-Halbironie-Zeug“, erklärt einer. „Ein bisschen ernst, aber gleichzeitig so, dass man es jederzeit als Witz abtun konnte.“ Auch sein Verhältnis zu Trump beschreiben sie ambivalent. Bei dessen Amtsantritt habe Jahn durchaus Ablehnung gezeigt, doch nicht aus klarer Opposition, sondern aus genereller Verachtung für Politik. Ein Freund erinnerte an eine frühe Sympathie für libertäre Ideen und Ron Paul. Doch ernsthaft engagiert habe er sich nie.

Stattdessen steigerte er sich immer mehr in eine Art digitale Persona hinein. In sozialen Netzwerken flutete er Kommentarspalten mit Vergewaltigungswitzen, die er selbst als „schwarzen Humor“ verstand. Auf YouTube tauchte einst ein Video auf, in dem er Facebook-Nutzern im Stil einer Parodie empfahl, alle Seiten zu „entliken“. Später versuchte er sich sogar als Stand-up-Comedian – ein Auftritt, der derart misslang, dass Freunde ihn heute unweigerlich mit Joaquin Phoenix’ „Joker“-Figur vergleichen. Ein einsamer Mann, verspottet, der mit seiner bitteren Ironie in einer selbstgebauten Welt versinkt.

Der letzte Auftritt – Ein einsamer Mann, verspottet, der mit seiner bitteren Ironie in einer selbstgebauten Welt versinkt

Diese Abkehr ins Netz hatte Folgen. Alle Gesprächspartner schildern, dass der Kontakt zu ihm über die Jahre abriss. „Er wurde unerträglich, wenn er seine 4chan-Sprüche in den Alltag übertrug“, sagt einer. „Irgendwann wollte niemand mehr mit ihm reden.“ Dass sich heute kaum jemand finden lässt, der ihn aus den letzten Jahren näher kannte, sei Teil dieser Geschichte – Jahn zog sich zurück, während er online immer radikaler wurde.

Vor diesem Hintergrund wirkt die Inschrift „ANTI-ICE“ auf den Patronenhülsen weniger als ein Bekenntnis dieser unentschuldbaren Tat und mehr wie eine Provokation. „Josh wollte, dass jemand anderes den Ärger bekommt“, meint ein alter Freund. „Er hat das nicht ernst gemeint, sondern geschrieben, um die Welt in Aufruhr zu versetzen.“ Ein Zitat, das uns die Haare zu Berge stehen lässt.

Donald Trump postete dazu: Ich wurde über die tödliche Schießerei im ICE Field Office in Dallas, Texas, informiert. Es wurde nun bekannt, dass der verwirrte Schütze „Anti-ICE“ auf seine Patronenhülsen geschrieben hat. Das ist abscheulich! Die tapferen Männer und Frauen von ICE versuchen lediglich, ihre Arbeit zu machen und die „Schlimmsten der Schlimmen“ Kriminellen aus unserem Land zu entfernen. Doch sie sehen sich einer beispiellosen Zunahme an Drohungen, Gewalt und Angriffen durch wahnsinnige radikale Linksextremisten ausgesetzt. Diese Gewalt ist das Ergebnis der radikalen linken Demokraten, die ständig unsere Strafverfolgungsbehörden dämonisieren, fordern, ICE solle abgeschafft werden, und ICE-Beamte mit „Nazis“ vergleichen. Die anhaltende Gewalt durch radikale linke Terroristen, im Gefolge der Ermordung von Charlie Kirk, muss gestoppt werden. ICE-Beamte und andere tapfere Mitglieder der Strafverfolgung sind in großer Gefahr. Wir haben ANTIFA bereits zur Terrororganisation erklärt, und ich werde in dieser Woche eine Executive Order unterzeichnen, um diese inländischen Terrornetzwerke zu zerschlagen. ICH RUFE ALLE DEMOKRATEN AUF, DIESE RHETORIK GEGEN ICE UND DIE STRAFVERFOLGUNGSBEHÖRDEN AMERIKAS SOFORT ZU BEENDEN! Die Trump-Regierung ist voll und ganz verpflichtet, die Strafverfolgung zu unterstützen, die Grenzen zu sichern, unser Heimatland zu schützen, gewalttätige illegale Kriminelle abzuschieben und den linken inländischen Terrorismus, der unser Land terrorisiert, vollständig auszurotten. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit in dieser Angelegenheit!

Genau das ist nun eingetreten. Während Trump und Vance das Attentat politisch ausschlachten, während das FBI ein ideologisches Motiv ins Zentrum rückt, zeichnet sich ein anderes Bild: ein junger Mann, gescheitert an seinen Witzen, verloren in den endlosen Weiten des Netzes, der keine feste Überzeugung hatte – außer der, niemandem Glauben zu schenken und jede Ernsthaftigkeit ins Lächerliche zu ziehen.

So hat Joshua Jahn posthum jenen Zynismus zur Perfektion getrieben, der sein Leben prägte. Ausgerechnet die Politiker, die er innerlich augenscheinlich verachtete, haben jetzt sein Handeln in eine der parteiischsten Schlagzeilen der letzten Jahre verwandelt. Unschuldige wurden getötet, wahrlich keine Heldentat. Das letzte Lachen, so bitter es klingt, gehört ihm – und es gilt zugleich uns allen, für eine Tat, die unverzeihlich ist.

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Monica
Monica
1 Monat zuvor

Sehr guter Bericht und sehr gut recherchiert. Das wünsche ich mir in Deutschland auch.

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