Der ausbleibende Aufschrei: Warum Amerikas Straßen gegen Trump zu leer bleiben und der Absturz der Werte von Trump

VonRainer Hofmann

September 4, 2025

Die Bilder vom Labor Day 2025 erzählen zwei Geschichten gleichzeitig. Da sind die erhobenen Fäuste vor dem Trump Tower in New York, die blau gestreiften Chicago-Flaggen, die durch die Häuserschluchten wehen, die „No Kings“-Schilder in Boston. Tausende, vielleicht Zehntausende waren es, die sich an diesem symbolträchtigen Montag im September gegen die Billionärsherrschaft und Trumps autoritäre Übergriffe erhoben. Doch in der Arithmetik des Widerstands offenbart sich eine schmerzhafte Wahrheit: Gemessen an der Dimension der Bedrohung – Nationalgarde in Washington D.C., Bundesübernahmen städtischer Verwaltungen, die schleichende Aushöhlung demokratischer Normen – bleibt der Protest erschreckend überschaubar.

New York City

Die Zahlen sprechen eine eindeutige Sprache. Selbst wenn man die optimistischsten Schätzungen der Organisatoren zugrunde legt und landesweit von circa fünf Millionen Teilnehmern ausgeht, erreicht die Bewegung nicht einmal ansatzweise die kritische Masse, die historisch betrachtet für systemische Veränderungen notwendig wäre. Die Politikwissenschaftlerin Erica Chenoweth hat in ihrer wegweisenden Forschung die 3,5-Prozent-Regel etabliert: Gewaltfreie Bewegungen, die zu ihrem Höhepunkt mindestens 3,5 Prozent der Bevölkerung mobilisieren können, scheitern praktisch nie. Für die USA mit ihren 342 Millionen Einwohnern bedeutet dies: Zwölf Millionen Menschen müssten gleichzeitig auf die Straße gehen. Die Realität des Labor Day lag um Größenordnungen darunter.

Die Anatomie der Angst

Was Amerika 2025 erlebt, ist keine klassische politische Apathie, sondern ein komplexes Geflecht aus kalkulierter Einschüchterung und erlernter Hilflosigkeit. Der Einsatz der Nationalgarde in Washington D.C. seit dem 11. August war mehr als eine Machtdemonstration – es war ein präzise orchestrierter Akt der Abschreckung. Wenn Bürgermeister Brandon Johnson in Chicago prophylaktisch Anweisungen erlässt, dass städtische Beamte nicht mit Bundesagenten kooperieren sollen, wenn Chicagoer Immigrantenrechtsgruppen fieberhaft Anwälte anheuern und Notfall-Hotlines einrichten, dann zeigt sich hier die perfide Wirkung autoritärer Drohkulissen: Sie zwingen die Zivilgesellschaft in die Defensive, noch bevor der erste Schlagstock geschwungen wird.

San Diego

Die Abschreckung funktioniert mit chirurgischer Präzision. In den Gesprächen mit Demonstranten kristallisiert sich ein Muster heraus: Da ist Filiberto Ramirez, 72, der in Chicago offen zugibt, Gewalt zu befürchten, sollten zusätzliche ICE-Agenten in die Stadt kommen. Da sind die Eltern, die ihre Kinder auf den Schultern tragen, aber insgeheim kalkulieren, ob die nächste Demonstration zu riskant wird. Da sind die Restaurant-Arbeiter vor dem Trump Tower, die symbolisch Tacos verteilen – eine Anspielung auf „Trump Always Chickens Out“ –, aber deren gewerkschaftlicher Organisationsgrad von mageren 9,9 Prozent sie daran hindert, wirklich ökonomischen Druck aufzubauen. Diese individuelle Risikoabwägung multipliziert sich millionenfach und erzeugt das, was Sozialpsychologen als „pluralistische Ignoranz“ bezeichnen: Jeder wartet darauf, dass die anderen zuerst handeln, während gleichzeitig alle glauben, sie seien mit ihrer Empörung allein. Die Folge ist eine Protestlandschaft, die zwar geografisch breit – von Guam bis Maine –, aber numerisch dünn besiedelt ist.

Chicago

Auch wir sind in ein überregionales Netzwerk eingebunden, das von Journalistinnen, Aktivisten und Bürgerrechtlern getragen wird. Es sorgt dafür, dass Informationen schneller fließen, Whistleblower vertraulich berichten können und Meldungen über Menschenrechtsverletzungen inzwischen aus Nord- und Südamerika ebenso zuverlässig bei uns eintreffen wie aus Afrika oder Europa. Diese Arbeit geschieht bewusst im Verborgenen – nur so erreichen uns Quellen, die sonst nie das Licht der Öffentlichkeit sehen würden. Auch der Epstein-Fall könnte noch eine große Bedeutung erlangen; unsere Recherchen laufen weiter, doch neben der Zeitfrage ist vor allem die Finanzierung ein ständiger Kraftakt. Tausende Dollar verschlingen solche Recherchen, während sich große Medienhäuser zunehmend zurückhalten – nicht zuletzt nach dem bis heute unerklärlichen Fehler des Wall Street Journal, das über das in Leder gebundene Buch mit den Geburtstagswünschen an Epstein berichtete, in dem Trump angeblich eine kompromittierende Eintragung hinterlassen haben soll. Schon im Vorfeld hatten erfahrene Reporter gewarnt, solches Hörensagen nicht zu veröffentlichen, denn das Buch liegt sicher bei Epsteins Anwälten und wird garantiert nicht herausgegeben. Dieser journalistische Fehltritt hat der Sache erheblich geschadet: Er hat es erschwert, Menschen gegen Trump zu mobilisieren, weil viele nun fürchten, dass andere Enthüllungen ebenfalls angreifbar sein könnten. Während Trumps Abschiebepolitik in vielen Bundesstaaten massiv kritisiert wird, bleibt sie in den republikanischen Hochburgen weitgehend unangefochten – und jeder journalistische Fehler kostet nicht nur Vertrauen, sondern stärkt die politische Rechte.

Das Paradox der tausend Forderungen

„Workers Over Billionaires“ – der Slogan klingt nach revolutionärer Klarheit, doch dahinter verbirgt sich ein strategisches Dilemma, das Bewegungen seit jeher plagt. Die Labor-Day-Proteste vereinten Gewerkschafter, die für höhere Löhne kämpfen, Bürgerrechtler, die sich gegen Bundesübernahmen wehren, Immigrantenaktivisten, die ICE-Razzien fürchten, Lehrer, die ihre Bildungsbudgets verteidigen, und Demokraten, die um die Verfassungsordnung bangen. Diese Breite ist gleichzeitig Stärke und Schwäche.

Erfolgreiche Massenbewegungen der Geschichte – von der Bürgerrechtsbewegung über die Anti-Apartheid-Kampagne bis zu den osteuropäischen Revolutionen von 1989 – zeichneten sich durch kristallklare, eingängige Forderungen aus. „Gleiche Rechte jetzt.“ „Ein Mensch, eine Stimme.“ „Gorbatschow, reißen Sie diese Mauer nieder.“ Die aktuelle Anti-Trump-Bewegung hingegen gleicht einem Kaleidoskop berechtigter Anliegen, das in seiner Vielschichtigkeit die mobilisierende Kraft verliert.

Oakland

Wenn May Day Strong von der „Billionärs-Übernahme“ spricht und gleichzeitig gegen Bundesinterventionen, für Arbeiterrechte, gegen Immigrantenverfolgung und für den Erhalt von Medicaid protestiert wird, entsteht keine fokussierte Energie, sondern diffuse Empörung. Der durchschnittliche Amerikaner, der vielleicht mit einem oder zwei dieser Anliegen sympathisiert, findet keinen klaren Einstiegspunkt. Wo genau unterschreibt man? Wofür genau riskiert man seinen Job? Wann genau wäre der Kampf gewonnen?

Die strukturelle Ohnmacht der Arbeiterschaft

Amerika 2025 ist ein Land, in dem die Grammatik des Widerstands verlernt wurde. Mit einer gewerkschaftlichen Organisationsrate von nicht einmal zehn Prozent fehlt der Bewegung ihr historisch wichtigster Muskel: die Fähigkeit, durch koordinierte Arbeitsniederlegungen das ökonomische Räderwerk zum Stillstand zu bringen. Die großen gesellschaftlichen Umbrüche Amerikas – vom New Deal über die Bürgerrechtsgesetzgebung bis zu den Umweltschutzgesetzen der 1970er – wurden stets von oder mit starken Gewerkschaften erkämpft, die nicht nur demonstrieren, sondern die Produktion lahmlegen konnten.

Los Angeles

Die heutige Realität sieht anders aus. Die SEIU Healthcare Michigan mag stolz ihre 17.000 Mitglieder mobilisieren und Streiks ankündigen, doch das sind Nadelstiche in einem Wirtschaftssystem, das längst gelernt hat, mit fragmentierten Arbeitskämpfen zu leben. Die Chicago Teachers Union kann Tausende auf die Straße bringen, aber ohne die Hafenarbeiter, ohne die Lastwagenfahrer, ohne die Amazon-Lagerarbeiter bleibt es bei symbolischen Gesten.

Die Ironie dabei: Gerade in Zeiten historisch niedriger Arbeitslosigkeit hätten Arbeiter theoretisch maximale Verhandlungsmacht. Doch Jahrzehnte neoliberaler Politik haben diese Macht atomisiert. Gig Economy, befristete Verträge, die Angst vor Automatisierung – all das hat aus der Arbeiterklasse eine Ansammlung vereinzelter Individuen gemacht, die um ihr persönliches Überleben kämpfen statt um kollektive Rechte.

Von der Women’s March zur Protestmüdigkeit

Es gibt einen grausamen Präzedenzfall, der wie ein Schatten über der aktuellen Bewegung liegt: die Women’s March von 2017. Damals, unmittelbar nach Trumps erster Amtseinführung, strömten 3,3 bis 4,6 Millionen Menschen auf Amerikas Straßen – eine der größten Einzeltagsmobilisierungen in der Geschichte des Landes. Die rosa Pussy Hats wurden zum globalen Symbol des Widerstands. Und dann? Trump regierte vier Jahre weiter, die Bewegung zersplitterte, die Energie verpuffte.

Women’s March, 2017

Diese Erfahrung hat sich tief in das kollektive Bewusstsein eingegraben. Wozu noch einmal marschieren, wenn selbst Millionen nichts bewirken? Die Black-Lives-Matter-Proteste von 2020 mögen mit 15 bis 26 Millionen Teilnehmern über mehrere Wochen die größte Protestwelle der amerikanischen Geschichte dargestellt haben, doch auch sie führten zu keinem fundamentalen Systemwandel. Polizeibudgets wurden marginal gekürzt und dann wieder erhöht. Die strukturelle Gewalt blieb intakt.

Black-Lives-Matter-Proteste von 2020

Diese Protestmüdigkeit ist nicht nur psychologisch, sondern auch materiell. Demonstrieren kostet: Anfahrt, verlorene Arbeitszeit, potenzielle Verhaftungen, Anwaltskosten. Nach Jahren der Pandemie, der Inflation, der wirtschaftlichen Unsicherheit sind die Ressourcen vieler Amerikaner erschöpft. Die Mittelschicht, traditionell das Rückgrat von Massenbewegungen, kämpft selbst ums Überleben. Wer drei Jobs jongliert, um die Miete zu zahlen, hat keine Zeit für die Revolution.

Der lange Marsch zur kritischen Masse

Und doch wäre es fatal, die aktuellen Proteste als bedeutungslos abzutun. Geschichte wird nicht linear geschrieben. Die Bürgerrechtsbewegung brauchte Jahre des Aufbaus, bevor sie ihren Zenit erreichte. Die osteuropäischen Revolutionen schwelten jahrzehntelang unter der Oberfläche, bevor sie 1989 explodierten. Was am Labor Day 2025 auf Amerikas Straßen geschah, mag zahlenmäßig unzureichend sein, aber es ist Infrastruktur im Werden.

Seattle

In Chicago bauen Immigrantenrechtsgruppen gerade Netzwerke auf, die weit über Demonstrationen hinausgehen: Rechtshilfe-Hotlines, Know-Your-Rights-Trainings, sichere Häuser. In Detroit vernetzen sich Gesundheitsarbeiter branchenübergreifend. In New York experimentieren Restaurantarbeiter mit neuen Protestformen. Diese molekularen Organisierungsprozesse sind unsichtbar in der Statistik der Demonstrationsteilnehmer, aber sie sind das Myzel, aus dem Massenbewegungen erwachsen.

Chicago

Was fehlt, ist der Funke. In der Geschichte des Widerstands ist es oft ein einzelnes Ereignis, das aus schwelender Unzufriedenheit flächendeckende Rebellion macht. Rosa Parks‘ Weigerung, ihren Sitzplatz aufzugeben. Die Selbstverbrennung Mohamed Bouazizis in Tunesien. Die Ermordung George Floyds. Niemand kann vorhersagen, was dieser Funke sein wird, aber die Wahrscheinlichkeit wächst mit jedem autoritären Übergriff der Trump-Administration. Die Drohung, Bundesstruppen nach Chicago zu schicken, könnte sich als strategischer Fehler erweisen. Amerikaner mögen in vielem gespalten sein, aber die Ablehnung militärischer Gewalt im Inland ist tief verwurzelt. Wenn Panzer durch die Straßen Chicagos rollen, könnte das die 12 Millionen mobilisieren, die heute noch zuhause bleiben.

Chicago

Bis dahin bleibt Amerika in einem Zwischenzustand gefangen: zu empört, um zu schweigen, zu fragmentiert, um zu siegen. Die 865 Veranstaltungen des Labor Day waren nicht nichts – sie waren der Beweis, dass der demokratische Puls noch schlägt. Aber sie waren auch nicht genug. Nicht annähernd genug. In der Arithmetik des Widerstands ist die Differenz zwischen einer Million und zwölf Millionen nicht graduell, sondern kategorial. Es ist die Differenz zwischen Protest und Revolution, zwischen Symbolik und Systemwandel.

Was bleibt: Die neue Yahoo/YouGov-Umfrage zeigt, dass eine klare Mehrheit der Amerikaner Trumps Plan ablehnt, die Nationalgarde auch nach Chicago und Baltimore zu schicken: Nur 37 % unterstützen ein solches Vorgehen, 53 % sind dagegen. Selbst Trumps Bundesübernahme in Washington, D.C., wird mehrheitlich kritisch gesehen – Demokraten und Unabhängige lehnen sie deutlich ab, nur Republikaner stehen mehrheitlich dahinter. Die rechtliche Basis ist zudem wackelig: Ein Bundesrichter in San Francisco entschied, dass der Einsatz von Militär in Los Angeles gegen das Posse-Comitatus-Gesetz verstoße, was weitere Einsätze angreifbar macht. Auffällig ist, dass nur ein Drittel der Befragten den Einsatz von Soldaten in ihrer eigenen Stadt gutheißen würde, unter Schwarzen sind es gar nur 15 %. Auch Trumps provokante Aussage, er sei „kein Diktator“, finde aber Zustimmung, weil er „Verbrechen stoppe“, wird von den meisten zurückgewiesen – 69 % lehnen die Vorstellung eines „Diktators gegen Kriminalität“ ab. Zugleich nehmen Sorgen über Kriminalität insgesamt ab: Die Zahl derer, die Gewaltkriminalität als „sehr großes Problem“ sehen, ist seit 2023 deutlich gesunken, während offizielle Statistiken sowohl in D.C. als auch in Chicago stark rückläufige Verbrechensraten belegen.

Die Geschichte lehrt uns, dass autoritäre Systeme nicht durch moralische Überlegenheit gestürzt werden, sondern durch organisierte Macht. Die Frage ist nicht, ob Amerika diese Macht aufbringen kann – die Zahlen von 2017 und 2020 beweisen das Potenzial. Die Frage ist, ob es sie aufbringen wird, bevor die Fenster des demokratischen Widerstands sich endgültig schließen. Der Countdown läuft, und die Straßen bleiben zu leer.

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Ela Gatto
Ela Gatto
2 Monate zuvor

Ein sehr interessanter und guter Bericht.

Ich hatte mich gewundert, warum so wenig Menschen auf den Stassen zu sehen waren.

Überall sah ich Kommentare von MAGA, die sich über die „handvoll Protester“ lustig gemacht haben
„Die Mehrheit liebt Trump“, „Die Linken woken haben nichts mehr zu melden“, „Das sind die die eh keinen Job haben und weiter auf Staatskosten leben wollen“, „die bezahlen Demonstraten sind wieder unterwegs“

Ich sehe da keinen Funken.
Denn egal, was Trjmp bisher in den Sand gesetzt hat, an Rechtsbrüchen gegangen hat, nichts davon hat gereicht.

Ich fürchte, dass der Funke erst kommt, wenn das Holz bereits vom Ozean überschwemmt ist. Und dann still verglimmt.

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