Ein Kind weint – und der Staat greift durch

VonKatharina Hofmann

Mai 24, 2025

Der Fall Naumburg und die gescheiterte Abschiebung einer syrischen Familie.

Am Morgen des 12. Mai 2025 betritt ein Trupp von Beamt:innen die Grundschule in Naumburg, Sachsen-Anhalt. Im Klassenzimmer läuft gerade der Sportunterricht. Lachen, Bewegung, Alltag. Doch für eine Schülerin – ein zehnjähriges syrisches Mädchen – endet dieser Tag mit Tränen, Schreien und der plötzlichen Erkenntnis, dass in Deutschland kein Ort garantiert sicher ist. Nicht einmal das Klassenzimmer.

Was wie ein Einzelfall wirkt, ist in Wahrheit die Kulmination einer immer härter durchgesetzten Abschiebepolitik, bei der Gesetze längst über Menschlichkeit gestellt werden. Die Schülerin wurde vor den Augen ihrer Mitschüler:innen von Polizist:innen aus dem Unterricht geholt – weil ihre Familie abgeschoben werden sollte. Ziel: Bulgarien. Ein Land, in dem sie laut Behörden bereits Schutzstatus genießen. Doch der Abschiebeflug scheitert. Nicht aus rechtlichen Gründen – sondern, weil die Kinder laut schrien.

Die Flugzeugbesatzung weigerte sich, die Familie mitzunehmen. Die Kinder schrien und weinten, der Vater soll sie dazu aufgefordert haben. Eine Familie am Rande der Verzweiflung, festgehalten zwischen Abschiebebescheid und Flugticket – und am Ende zu laut für den Vollzug.

Was bleibt, ist ein bitterer Nachgeschmack: Ein Kind wurde aus einem geschützten Raum gerissen. Eine Schule wurde zum Schauplatz staatlicher Härte. Lehrkräfte, Kinder, Eltern – sie alle wurden Zeugen einer Szene, die in einem demokratischen Rechtsstaat nicht stattfinden sollte.

Das Innenministerium und das zuständige Landratsamt halten sich bedeckt. Der Vorfall werde aufgearbeitet, heißt es. Eine abschließende Bewertung solle erst kommende Woche erfolgen. Klar ist aber schon jetzt: Es war nicht der erste Versuch. Bereits ein vorheriger Abschiebeversuch war gescheitert. Ein Eilantrag gegen die Maßnahme wurde vom Verwaltungsgericht Halle abgelehnt – mit Verweis auf den bestehenden Schutzstatus der Familie in Bulgarien.

Doch rechtlich korrekt bedeutet nicht moralisch vertretbar.

Die Familie hatte – so die Behörden – Angebote zur freiwilligen Ausreise schriftlich abgelehnt. Auch das wird protokolliert. Doch was nicht protokolliert wird: Die Angst, die Panik, die Zerrissenheit, die damit einhergeht, wenn Kinder miterleben, wie ihre Eltern abgeführt werden sollen. Wenn der Sportplatz zur Grenzstation wird.

Bereits Tage vor der Abschiebung, so berichten Landtagsabgeordnete, schlief die Familie nicht mehr in ihrer Unterkunft. Sie kamen nur noch morgens zurück. Zeichen von Fluchtverhalten? Oder schlicht: von Angst?

Die Reaktionen sind eindeutig. Menschenrechtsorganisationen, Lehrerverbände, Flüchtlingsräte – sie alle verurteilen den Vorgang scharf. Der Flüchtlingsrat Sachsen-Anhalt fordert ein klares Verbot von Abschiebungen aus Bildungseinrichtungen. Auch die GEW verweist auf ihren Leitfaden für den Fall drohender Abschiebungen und ruft Schulen auf, sich solidarisch zu zeigen.

Denn eines ist sicher: Diese Abschiebung mag rechtlich gedeckt gewesen sein. Aber sie war menschlich falsch.

In einer Zeit, in der Abschottung wieder als Stärke verkauft wird und Bürokratie über Empathie gestellt wird, braucht es klare Stimmen: für Schutzräume, für Kinder, für Menschlichkeit.

Ein Kind weint. Der Staat greift durch. Und die Gesellschaft steht vor der Frage: Wollen wir das wirklich so stehen lassen?

Amerikanische ICE-Verhältnisse nehmen in Deutschland zu. Was in Phoenix, El Paso oder Louisiana längst zum Alltag gehört – nämlich das Abführen von Migranten aus Schulen, Kirchen, Krankenhäusern – findet nun auch in Sachsen-Anhalt statt. Das ist ein bedenklicher Zustand. Und ein Weckruf.

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