Es ist ein merkwürdiger Reflex der deutschen Politik, mit einer Mischung aus Entsetzen und heimlicher Faszination über den Atlantik zu blicken, wenn dort wieder einmal die Abrissbirne durch demokratische Institutionen schwingt. Trumpismus, Polarisierung, die Erosion rechtsstaatlicher Normen – all das beobachten wir mit der selbstgefälligen Distanz eines Landes, das sich für immun hält gegen die Viren des Populismus. Dabei ist das, was in den USA passiert, längst in Deutschland angekommen. Wir haben es nur noch nicht gemerkt. Oder wollen es nicht merken. Die Abschiebemaschinerie läuft auf Hochtouren, und sie läuft geräuschlos. Während in den USA jede ICE-Razzia zum medialen Großereignis wird, vollzieht sich in Deutschland ein stiller Exodus. Eine jesidische Familien, die jahrelang in einer brandenburgischen Kleinstadt gelebt hatte, verschwinden über Nacht. Informatiker und Soziologinnen mit Ausbildungsplätzen werden wie Schwerverbrecher aus ihrem Leben gerissen. Schwerkranke werden ohne medizinische Begleitung in Flugzeuge verfrachtet. Die Geschichten sind zahlreich, die Empörung minimal.

Die Mechanik des Wegschauens
Ali Al-Qoshachee nannte sie „Fantasiepapiere“ – diese Bescheinigungen der Kreis-Ausländerbehörde Bergisch Gladbach, die ihm alle zwei, drei Wochen für ein paar weitere Wochen Aufschub gewährten. „Die Menschen in der Ausländerbehörde haben keine Ahnung, was das bedeutet, immer nur für ein paar Wochen in Deutschland erwünscht zu sein“, sagte der 31-jährige Informatiker, dessen Deutsch nach drei Jahren fast perfekt war. Fast jede Nacht träumte er davon, abgeholt zu werden. Sein Abschluss als Informatiker wurde hier nicht anerkannt, sein Abitur schon. Edeka wollte ihn zum 1. August als Außenhandelskaufmann ausbilden. Die Arbeitserlaubnis kam nie.

Am Nachmittag des 7. August hätte Al-Qoshachee einen Termin beim Standesamt gehabt, die letzte Unterschrift für seine Eheschließung. Sieben Stunden vorher wurde er bei einem Routinetermin beim Sozialamt in Rösrath festgenommen. Das Amtsgericht Köln sah keinen Grund, ihn hier zu lassen. Die geplante Ehe? Nach der Ablehnung des Asylantrags angebahnt, also offensichtlich Kalkül. Am 12. August flog er von Düsseldorf nach Bagdad.
Janefrancis Kalu, Soziologin, hatte einen Ausbildungsplatz als Erzieherin. Auch sie gehörte zu denen, die Deutschland nicht braucht. Im jüngsten Abschiebeflug in den Irak saßen vier Frauen und acht Minderjährige. Die jesidische Familie aus Lychen, vier minderjährige Kinder, jahrelang integriert, wurde am 22. Juli abgeschoben. Das Verwaltungsgericht Potsdam hob noch am selben Tag die Ausreisepflicht auf – das Flugzeug war längst in der Luft. Ein juristisches Achselzucken folgte: Die Abschiebung sei nicht rechtswidrig gewesen, beschied dasselbe Gericht später. Ali Al-Qoshachee hatte mehr Glück als die jesidische Familie, könnte man zynisch anmerken. Er wurde wenigstens ordnungsgemäß abgeschoben, mit richterlichem Segen.

Die nächtliche Abholung der georgischen Familie in Brigachtal liest sich wie aus einem Kafka-Roman, der in der schwäbischen Provinz spielt. Um drei Uhr morgens klingelt die Polizei, eine Stunde Zeit zum Packen, der 19-jährige Sohn mit Muskeldystrophie wird ohne seinen Elektrorollstuhl mitgenommen. Drei Polizeifahrzeuge für eine Familie, deren größtes Vergehen es war, vier Jahre lang unauffällig in Deutschland gelebt zu haben. Die Tochter in Ausbildung, der jüngere Sohn in der Schule, der Vater spricht Deutsch, die Mutter engagiert im Gemeindeleben. Die Wohnung wurde binnen einer Woche versiegelt. Mit dem jüngsten Abschiebeflug in den Irak sind insgesamt vier Frauen und acht Minderjährige abgeschoben worden sind, was alleine schon verachtenswert genug ist. Die Situation im Irak ist weiterhin hochgradig gefährlich. Rückkehrende – insbesondere traumatisierte – Frauen und Kinder sind massiv gefährdet: durch Gewalt, Landminen, politische Instabilität, fehlende Infrastruktur und gesellschaftliche Bedrohung. Vielleicht sollte man Politiker aus Deutschland, oder noch besser, Schreihälse von der AFD für eine Woche dort hinsenden – Learning by bad luck, eine garantiert einzigartige Lebenserfahrung. Aktuell liegen uns über 120 Fälle vor, und wir konnten das Thema aus Zeitgründen nur am Rande bearbeiten. Ja, was meinen sie, wenn wir da mal voll einsteigen, ich vermute, viele werden sich beim Lesen erstmal setzen müssen, also besser erst setzen, dann lesen.
Das Versagen der vierten Gewalt
Was in Deutschland besonders schmerzt, ist das Versagen der Medien. Eine angepasste Obrigkeitshörigkeit durchzieht große Teile der deutschen Presselandschaft. Die FAZ demonstrierte im Fall Frauke Brosius-Gersdorf in Perfektion, wie Medienberichterstattung an Ruf und Qualität verlieren kann – eine liberale Richterin wurde zur Unperson, weil sie andere Ansichten zu Abtreibung vertrat, als es die neue rechte Meinungshoheit erlaubt. Medien wie Nius, Welt, Berliner Zeitung, Bild betreiben – holla die Waldfee – teilweise Berichterstattung auf Körperverletzungsniveau für ihre Leser. Bezeichnend ist, dass in den wenigen internationalen investigativen Journalistenteams, die sich ohne Angst diesen Themen widmen, wenige deutsche Kollegen zu finden sind. Hervorzuheben ist das Investigativ-Team der Süddeutschen Zeitung für gute Arbeit. Die Sprachen in diesen Teams: Englisch, Französisch, Italienisch, Portugiesisch, Niederländisch, afrikanische Sprachen, Russisch, Ukrainisch, Polnisch. Es sind die Außenstehenden, die Zugezogenen, die Mehrsprachigen, die noch den Mut haben, genau hinzuschauen. Die deutschen Journalisten? Meist schweigen sie, bis auf die wenigen Regionalzeitungen, ducken sich weg, oder schlimmer noch: Sie machen mit, weil sie nicht handeln. Wie gut ist es doch, dass der große Mediengott den Agenturjournalismus erfunden hat, lecker Kaffee, mit wenig Verantwortung.
In den USA mag die Abschiebepolitik brutal sein, aber sie wird begleitet von einem Chor investigativer Journalisten, die jede Razzia dokumentieren, jedes Schicksal nachzeichnen, jede behördliche Übertretung ans Licht zerren. Und: Sie gehen den Schritt weiter, helfen den deportierten Menschen, oftmals mit eigenen Mitteln. Hier? Die wenigen Flüchtlingshilfsorganisationen kämpfen einen einsamen Kampf, ohne medialen Support, ohne große gesellschaftliche Rückendeckung. Die großen Redaktionen berichten pflichtschuldig über Eilanträge und Gerichtsentscheidungen, aber wo sind die Geschichten? Wo sind die Gesichter hinter den Zahlen? Und: Wo ist die mediale Wehrhaftigkeit dagegen?
Der perfekte Deal
Friedrich Merz und seine Koalition haben verstanden, was in der neuen hyperpolarisierten Ära zählt: Handeln statt reden, durchgreifen statt diskutieren. Die AfD treibt, die CDU liefert. Es ist ein perfekter Deal für beide Seiten. Die Rechtsaußenpartei kann sich als einzig wahre Stimme des Volkes inszenieren, während die Regierung ihre Handlungsfähigkeit beweist. Fünfzig Prozent der Wählerstimmen sind damit abgedeckt – die rechtsgelagerten CDU/CSU-Wähler und die AfD-Anhänger.

Man muss nichts tun außer abschieben, und der Zug läuft. Die „politische Mitte“, von der Merz so gerne spricht, ist längst nach rechts gerückt. Was gestern noch undenkbar war, ist heute Regierungspolitik. Was heute noch als human gilt, wird morgen als naiv belächelt. Der Firewall zur AfD mag formal noch stehen, aber inhaltlich ist sie längst durchlässig geworden. Jede Abschiebung, jede nächtliche Abholung, jeder verwehrte Eilantrag ist ein weiterer Stein, der aus dieser Mauer bricht.
Die deutsche Variante
Es ist diese Lautlosigkeit, die die deutsche Variante so effizient macht. Keine spektakulären ICE-Razzien, keine weinenden Kinder vor laufenden Kameras, keine viralen Videos von Festnahmen. Stattdessen: Termine beim Sozialamt, die zu Festnahmen werden. E-Mails, die wenige Stunden vor der Abschiebung verschickt werden. „Fantasiepapiere“, die Menschen in permanenter Angst halten. Hochqualifizierte, die trotz Arbeitsangeboten keine Arbeitserlaubnis erhalten. Die Ironie dabei: Während Deutschland sich über Trumps Mauer und seine Abschiebungsrhetorik echauffiert, perfektioniert es selbst ein System, das in seiner Effizienz und Kälte dem amerikanischen in nichts nachsteht. Der Unterschied liegt nur in der Präsentation. Trump prahlt, Deutschland schweigt. Trump inszeniert, Deutschland exekutiert. Trump schreit auf Truth Social, Deutschland stempelt.

Was bleibt, ist die Erkenntnis, dass der Trumpismus keine amerikanische Erfindung ist. Er ist die logische Konsequenz einer Politik, die Härte mit Handlungsfähigkeit verwechselt und Menschlichkeit als Schwäche deutet. Deutschland nimmt den Schuss nicht ernst, weil es glaubt, die Waffe sei nicht auf uns gerichtet. Dabei haben wir längst selbst abgedrückt. Wieder und wieder. Nur eben leise, effizient, deutsch. Der eigentliche Skandal ist nicht nur, dass Deutschland Informatiker und Soziologinnen abschieben, während die Wirtschaft nach Fachkräften schreit. Es ist nicht nur, dass wir jesidische Familien in den Irak zurückschicken, die vor genau jenem Terror geflohen sind, der sie dort erwartet. Der Skandal ist, dass wir es schweigend geschehen lassen. Dass unsere Medien versagen, unsere Institutionen kapitulieren, unsere Gesellschaft wegschaut.
Am Ende ist es vielleicht das, was Deutschland von Amerika unterscheidet: Während dort der Abbau demokratischer Normen unter Getöse und Geschrei vonstattengeht, vollzieht er sich hier in aller Stille. Kein Aufschrei, kein Widerstand, nur ein kollektives Achselzucken. Die Bürokratie funktioniert, die Formulare werden ausgefüllt, die Bescheide verschickt. Business as usual in der Berliner Republik. Die Züge fahren pünktlich, auch die nach Bagdad. Und auch für Ali Al-Qoshachees sind die Alpträume wahr geworden – nicht in einer Diktatur, sondern im Deutschland des Jahres 2025.
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Bravo
Ein sehr guter Artikel.
Es darf nicht sein, dass Menschen mit Ausbildung, mit qualifizierten Berufen, Menschen ohne jegliche kriminelle Vergangenheit abgeschoben werden.
Menschen, die eine echte Bereicherung für Deutschland sind.
Für die jesidische Familie, die erwähnt wurde, gab es Regional viele Artikel und auch eine Petition.
Im Kleinen gibt es sie zum Glück noch, die Menschen, die nicht Wegschauen.
Aber leider gibt es auch die andere Seite der Medaille, die man auch erwähnt sollte und erwähnt darf, ohne dass man gleich als Na** verurteilt wird.
Es gibt, vor allem in den Großstädten, eine hohe Kriminalitätsrate.
Leider nicht so selten von Clans.
Viele haben ein Vorstrafenregister, dass länger ist, als der Weg zum Mond.
Diese Personen werden selten abgeschoben, was verständlicherweise Unmut schürt.
Die Polizei hat in diesem Bereich fast schon aufgegeben.
Sie Verhalten, das Gericht setzt sie erstmal wieder auf freien Fuß.
Auch da muss etwas geschehen, ohne dass es gleich heißt „Du bist Ausländerfeindlich“.
Diese Kriminellen bedrohen die gesamte Bevölkerung, egal welcher ethnische Hintergrund. Forderung nach dem Kalifat ist genau so undemokratisch, wie das Programm der AfD.
Das darf man bicht außer Acht lassen.
Und genau das wird dann aufgebauscht in den Medien und damit der AfD die perfekt Plattform geboten.
Dass Deutschland von Kriminellen überrannt wird etc.
Das verfängt sich leider leicht in den Kõpfen.
Und die, die jetzt abgeschoben werden, sind bis auf wenige Ausnahmen nicht Kriminell.
Aber sie wehren sich nicht und man kann damit „zeigen, dass man Abschiebung, wie versprochen“.
Nur, dass es zumeist, wie in den USA, die Falschen trifft.
Vor den Clans haben die deutschen Polizisten Angst und meiden die Viertel. Mir schwant übelstes als Ausblick auf die anstehenden Kommunalwahlen in NRW ln Gelsenklrchen oder Duisburg und wie lange wir Deutschen zugucken. Ein like auf Social Media ist kein Widerstand, allerdings glauben das sehr viele.
Es braucht dringend mehr Öffentliche Berichte wie diesen hier – wenn sonst niemand berichtet. Und es braucht dringend mehr Einfluss und Druck auf die ÖRR, die sich in den letzten Jahren als lahmen Enten entwickelten.
Das Problem ist eben aber auch, dass die sogenannte „Sozialindustrie“ immer weniger glaubhaft wirkt. Genauso wie der Journalismus. Man vertraut niemandem mehr..Es gibt z.B. Flüchtlinsberatungen, wie in BO, die seit Jahrzehnten von einer einzigen Person nach außen geleitet wird, mit einem enormen, bundesweiten Einfluss. Die GF bleibt selbst im Hintergrundl, wieviel sie verdient, weiss niemand – Zuarbeitende bekommen Mindestlohn. Wenn nicht frewillig und kostenlos.
Führungsgehälter plus Boni werden heute in NGOs plus Wohlfahrt, Vereine, Verbände…immer noch nur freiwillig von Führungskräften und Vorständen preisgegeben, die sich selbst genehmigen, völlig intransparent bis herunter zum Ehrenamt. Von Spenden und Steuergeldern! Ein Skandal, dass das nicht längst wie im öffentlichen Dienst verpflichtend ist. Wenn das alles nur noch durch Misstrauen getragen wird – gibt es eben Chaos. Und das, was aktuell kurz vor der NRW-Kommunalwahl in den Kommunen herrscht. Ein Fass ohne Boden!
Ach, und: die von Roma und Kriegsflüchtlingen gleichzeitig überforderten Städte, die von EU und Bund im Stich gelassen werden, haben Recht! Auch Roma sind nicht persé Opfer – ganz im Gegenteil. Genauso wie die Familienclans nicht, die aus arabischen Ländern hinzukamen. Der große Teil, der Zugewanderten in diese Städte, sind keine Akademiker und nutzen den Staat zum großen Teil aus!
Dehalb ist es umso unsäglicher, dass ausgerechnet die hier im Artikel Beschriebenen von überforderten Politikern in einen Topf geworfen und abgeschoben werden!
Danke Dir
Den Finger (zu Recht) in die Wunde gelegt.
Es ist zum Heulen und ein Trauerspiel.
Danke für’s Nichtverschweigen!
…das liegt uns auch nicht, darum lieben die uns auch so sehr – 😂
Das wird solange still schweigend geduldet, bis es andere Bevölkerungsgruppen, bis es die eigene Familie, die eigene Person trifft.
Mir, als Behinderte und Seniorin, graut vor einer solchen Zukunft.
Danke für eure unermüdliche Arbeit!
ich danke dir, und du hast mit deiner feststellung recht, und das ist das bedenkliche