Warten in der Hölle – Wie das niederländische Flüchtlingssystem Menschen in den Suizid treibt

VonRainer Hofmann

Juli 14, 2025

Es beginnt mit einem Antrag – und endet für viele mit dem Verlust jeglicher Hoffnung. In den Flüchtlingslagern der Niederlande herrscht eine stille Katastrophe. Eine Krise, die nicht nur Zahlen hinterlässt, sondern Namen, Gesichter, Geschichten. In den vergangenen Jahren haben sich mindestens 26 Menschen in niederländischen Asylunterkünften das Leben genommen. Und noch immer bleibt das System, das sie auffangen sollte, ein Ort des Wartens, der Isolation, der strukturellen Kälte. Polina, eine 36-jährige trans Frau, verbrachte zuerst einen Monat im Erstaufnahmezentrum Ter Apel, dann über zwei Jahre im Camp Echt in Limburg. „Man sagt, das sei eines der besseren Lager“, erzählt sie. „Aber eigentlich ist es der Ort, an den sie diejenigen schicken, die zu viele Fragen stellen – damit sie aufhören zu fragen.“ In ihrer Zeit dort begegnete sie Männern mit Halluzinationen, Frauen mit Selbstverletzungen, Menschen, die versuchten, mit dem Einlegen toter Ratten irgendwie Sinn zu schaffen. Einige hörten Stimmen, andere verstummten für immer. Für viele wird das Lager zur letzten Station – nicht auf der Flucht, sondern im Leben. Das größte Problem ist nicht die Enge, nicht das schlechte Essen, nicht einmal die Aussichtslosigkeit – sondern die Ungewissheit. Asylverfahren in den Niederlanden können sich über Jahre ziehen. Trotz der höchsten Anerkennungsquote Europas sind die Niederlande zugleich das Land mit den langsamsten Entscheidungen. In der Regel dauert es mittlerweile zweieinhalb Jahre, bis überhaupt ein Bescheid ergeht. Ursprünglich sollten Asylverfahren innerhalb von sechs Monaten abgeschlossen sein – ein Ziel, das 2022 offiziell auf 15 Monate gestreckt wurde, in der Realität aber nur selten eingehalten wird. Für viele bedeutet das: jahrelanges Warten in überfüllten, schlecht ausgestatteten Lagern, in denen selbst medizinische Notfälle hinausgezögert werden, bis man „weiterverlegt“ wird. Wer bei der Ankunft keine eigenen Medikamente dabei hat, hat oft Pech. Und wer psychologische Hilfe braucht, trifft nicht selten auf Hilfspersonal ohne jede fachliche Qualifikation.

Polina berichtet, dass ihr anfangs ein „Assistent“ zugeteilt wurde, der weder Therapeut noch Psychologe war. Über eine Dolmetscherin stellte er russischen Geflüchteten stereotype Fragen – etwa, ob sie ihre Probleme mit Alkohol gelöst hätten. Polina, die keinen Alkohol trinkt, reichte gemeinsam mit anderen Frauen eine Beschwerde ein – und erst danach wurde sie einer echten Therapeutin zugewiesen. Sie sagt, dass es nur deshalb funktionierte, weil sie über 30 war, aus Russland kam und wusste, wie man sich Gehör verschafft. Jüngere trans Personen hätten diese Erfahrung oft nicht – und für sie könne die Situation tödlich sein. Katya Mikhailova, eine queere Geflüchtete aus Moldawien, nahm sich das Leben, weil sie keine angemessene psychologische Versorgung erhielt. Auch andere queere Geflüchtete – Hina Zakharova, Antonina Babchenko, Mikhail Zubchenko, Alisa Serova – starben durch Suizid in den Lagern, ohne je ihren zweiten Bescheid abzuwarten. Der Druck, die Angst vor Abschiebung und die alltägliche Homophobie, selbst von Camp-Mitarbeitern, zermürben viele. Offiziell sind etwa 70.000 Menschen in niederländischen Asylunterkünften untergebracht, die meisten aus Syrien, gefolgt von der Türkei, Irak, Eritrea und Somalia. In der Praxis werden Flüchtlinge oft weit über die gesetzlich erlaubte Zeit in Turnhallen, Sporthallen oder Notquartieren untergebracht – mit Betten in Reih und Glied, ohne Privatsphäre, ohne Struktur. In Ede lebten ukrainische Geflüchtete in Militärbaracken ohne Küche, ihre Kinder erhielten nur zweimal pro Woche Unterricht, während vom nahegelegenen Stützpunkt Gewehrfeuer zu hören war. Die Lage ist längst ein Systemversagen – doch darüber herrscht Streit: Die Rechten nennen es „Migrationskrise“, die Linken sprechen von einer „Aufnahmekrise“. Tatsächlich wurde 2017 beim niederländischen Migrationsdienst das Personal massiv reduziert. Spätere Neueinstellungen – über 400 Personen – halfen kaum, weil die Ausbildung neun Monate dauert. Unterlagen verschwanden, Termine wurden verpasst, und statt Interviewmitschnitten erhielten Juristen manchmal Dokumentarfilme über Herkunftsländer. Eine Absurdität, die zur Regel geworden ist.

Gleichzeitig verschärfte die rechte „Partei für die Freiheit“, die 2023 die Wahlen gewann, das System: Geflüchtete sollten statt einer dauerhaften Aufenthaltsgenehmigung nur noch dreijährige Duldungen erhalten – mit ungewisser Verlängerung. Familiennachzug sollte gestrichen, Integration zur Bringschuld werden. Die Pflicht zu teuren Sprach- und Integrationskursen, finanziert über Kredite, verschärft die Lage zusätzlich: Wer durch die Prüfung fällt, zahlt nicht nur den Kurs, sondern auch eine Strafe. Der Europäische Gerichtshof hat letztere inzwischen verboten – doch das System bleibt. Ein Gesetz zur gleichmäßigen Verteilung Geflüchteter auf alle Gemeinden sollte Anfang 2024 Entlastung bringen – doch es scheitert vielerorts am Widerstand der Bevölkerung. In Elst etwa sollten 800 Menschen untergebracht werden, doch die Proteste waren laut, aggressiv und von Fremdenfeindlichkeit geprägt. Plakate warnten: „Nein zum Aufnahmezentrum – Elst muss sicher bleiben.“ In vielen Gemeinden baut man lieber keine Unterkunft, als dass ein Wohnprojekt für Einheimische verzögert wird. Derweil bleibt das Erstaufnahmezentrum Ter Apel überfüllt – es war nie für solche Massen gedacht, doch in Zeiten des Rückstaus bleibt es das Nadelöhr. Wer Glück hat, wird irgendwann verlegt. Wer nicht, lebt monate- oder jahrelang im Provisorium, abgeschnitten von der Gesellschaft. Zwar dürfen Geflüchtete auch privat unterkommen – aber nur, wenn sie dafür ihren Anspruch auf Unterbringung aufgeben. Arbeiten ist in den ersten sechs Monaten verboten. Danach braucht man eine Identifikationsnummer, einen Arbeitgeber mit Sondergenehmigung – und Durchblick im niederländischen Arbeitsrecht. Die wenigen Jobs sind oft körperlich hart, schlecht bezahlt und demütigend. Polina putzte neun Stunden pro Woche für ein paar Euro Aufwandsentschädigung. Salim, ein anderer Geflüchteter, war froh, überhaupt etwas tun zu können – das Geld war nebensächlich. Sprachkurse, Filmabende, Brettspiele, ein Flüchtlingsorchester: All das gibt es – doch es reicht nicht. Die meiste Zeit ist Warten. Warten auf einen Bescheid. Auf einen Fehler. Auf einen Ausbruch. Auf das Ende. In einem Land, das sich gern als zivilisiert, weltoffen und effizient beschreibt, ist die Flüchtlingspolitik ein finsteres Kapitel. Ein System, das sich selbst gelähmt hat. Ein Apparat, der nicht schützt, sondern aufhält. Und Menschen, die nichts wollen als leben, aber auf dem Weg dorthin scheitern. Warten in der Hölle – das ist kein Schicksal. Es ist politischer Wille. Und für manche das Todesurteil.

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Christiane Bohrmeyer
Christiane Bohrmeyer
3 Monate zuvor

Wahnsinn. Bitte, wie bekloppt ist die Welt? Toll das es euch gibt.

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