Stimmen gegen die Angst

VonRainer Hofmann

Oktober 9, 2025

Es war einer dieser Abende, an denen eine Stadt zu atmen beginnt, obwohl alles danach aussieht, als hielte sie den Atem an. In der Dämmerung zogen Hunderte Menschen durch die Straßen von Chicago – erst hundert, dann fünfhundert, dann achthundert, und schließlich über tausend. Sie kamen zusammen, um gegen den Einsatz der Nationalgarde und der Einwanderungsbehörde ICE zu protestieren – gegen eine Politik, die Uniformen in Viertel schickt, in denen früher Nachbarn lebten.

Die Menschen liefen, keine Wut, keine Gewalt, sondern eine Entschlossenheit, die fast still wirkte. Die Demonstrierenden marschierten die Michigan Avenue entlang, durch das Zentrum der Stadt, im Schatten des Trump Tower. Touristen auf einem Doppeldeckerbus riefen ihnen zu, jubelten, klatschten – kleine Gesten der Menschlichkeit, die in solchen Momenten wie Signale wirken: Ihr seid nicht allein. Die Menge blieb friedlich, obwohl das Klima längst keines mehr war. Nur einmal wurde es laut – ein einzelner Gegendemonstrant mit einem Mikrofon, der über „illegale Einwanderung“ sprach. Die Polizei trat dazwischen, trennte, beruhigte. Kein Stein, keine Sirene, keine Faust. Nur die Stimmen derer, die nicht länger zusehen wollten, wie ihre Stadt zur Kulisse eines politischen Machtspiels wird.

Hundert waren es zu Beginn. Hundert Menschen, die sich in der Dämmerung am Chicago River versammelten – erschöpft, wütend, unbeirrt. Aus hundert wurden fünfhundert, aus achthundert eintausend und schließlich über zweitausend. Und wer tatsächlich meint, das sei wenig, dem kann man nur sagen: Den Mut musst du erst einmal haben, unter diesen kriegsähnlichen Umständen auf die Straße zu gehen. Wir wissen, wovon wir reden. Wer an einem Abend wie diesem auf die Straße geht, tut das unter dem Blick von Drohnen, unter der Drohung von Gesetzen, die jede Regung zur Gefahr erklären. Diese Menschen wissen, was sie riskieren. Aber sie wissen auch, dass Schweigen teurer ist als Mut.

Chicago war an diesem Abend keine Stadt aus Stahl und Beton, sondern aus Rückgrat. Eine Stadt, die ihre Stimme erhob, weil sie nicht länger als Kulisse dienen wollte – nicht für den Ausnahmezustand, nicht für die Angst. Und wenn jemand sagt, tausend seien zu wenig, dann ist die Antwort einfach: Den Mut dieser zweitausend musst du erst einmal aufbringen.

Abonnieren
Benachrichtige mich bei
guest
1 Kommentar
Oldest
Newest Most Voted
Inline Feedbacks
View all comments
Josef Sanft
Josef Sanft
2 Stunden zuvor

Wieder mal großen Dank und Respekt für eure Arbeit. Passt auf euch auf.

1
0
Would love your thoughts, please comment.x