Wer heute durch die Straßen von Manzhouli geht, dem wird schnell klar, dass dieser Ort mehr ist als nur eine Grenzstadt. Manzhouli, gelegen in der Inneren Mongolei im Nordosten Chinas, ist das wichtigste Tor zwischen Russland und China – ein Ort, an dem sich globale Machtverhältnisse in Containerreihen, Sägewerken und Supermärkten materialisieren. Hier rollt der neue Tauschhandel des 21. Jahrhunderts: russisches Holz gegen chinesische Autos, Rapssamen gegen Smartphones, politische Rückendeckung gegen wirtschaftliche Abhängigkeit. Fast sechs Prozent der russischen Wirtschaft bestehen mittlerweile aus Exporten nach China – ein Anteil, den weltweit sonst nur Iran erreicht, ebenfalls durch Sanktionen isoliert und fast vollständig auf chinesische Käufe angewiesen. Während Europa sich nach dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine mit Entschlossenheit abwendet, hat China seinen Schulterschluss mit Moskau strategisch vertieft. In Manzhouli, wo seit 1900 eine von Russland gebaute Eisenbahnlinie in das chinesische Netz übergeht, laufen die Warenströme fast ununterbrochen.


Züge mit sibirischem Bauholz – Kiefer für den Hausbau, Birke für Essstäbchen, Espe für Schalungen – passieren die Grenze ebenso wie Lkws voller Rapssamen, die in chinesischen Fabriken zu Speiseöl verarbeitet werden. In einem hochautomatisierten Werk nahe der Grenze werden täglich Tonnen von russischem Raps entkernt und gepresst. Dort, wo früher noch Kohle und Holzreste verbrannt wurden, liefern heute Windräder den Strom für diese neue Ära. Und während China Rohstoffe empfängt, liefert es im Gegenzug Fertigprodukte in einer Bandbreite, die Russlands Binnenwirtschaft alt aussehen lässt: Kleidung, Smartphones, Fahrzeuge. Seit dem Rückzug westlicher Automarken im Zuge des Kriegs dominiert China den russischen Automarkt – 60 Prozent aller Neuwagen stammen inzwischen von chinesischen Herstellern. Zwar reagierte Moskau mit einer Importgebühr von 7.500 Dollar für Neuwagen, doch chinesische Unternehmer in Manzhouli haben schnell gelernt, wie man das System umgeht: In prunkvollen Gebrauchtwagenhallen mit goldenen Türen und Marmorböden werden fast neue BMWs, Land Rover und chinesische Edelmarken verkauft – als Privatwagen für russische Käufer, steuerfrei.


Doch die wirtschaftliche Nähe hat ihren Preis. China nutzt die Lage strategisch, um sich von westlichen Lieferanten unabhängig zu machen. Früher kam Raps aus Kanada – nun fast ausschließlich aus Russland. Nach Trumps neuen Strafzöllen auf chinesische Produkte richtete sich Pekings Vergeltung gegen Ottawa: 100 Prozent Zölle auf kanadisches Rapsöl und -mehl, dazu ein Handelsverfahren gegen die Saat selbst. In den Regalen von Manzhouli spiegelt sich diese neue Allianz wider – mit „Stalin“-Wein, Putin-Matrjoschkas und russischem Instantkaffee. Was einst eine Beziehung unter kommunistischen Brüdern war, ist heute ein asymmetrisches Machtverhältnis. In den 1950er-Jahren halfen sowjetische Berater China beim Aufbau von Stahlwerken und Eisenbahnen. Heute produziert China mehr Industrieerzeugnisse als die USA, Deutschland, Japan, Südkorea und Großbritannien zusammen. Russlands Anteil: 1,3 Prozent – inklusive Waffenproduktion. Es ist eine ökonomische Realität, die auch im Stadtbild von Manzhouli sichtbar wird, wo chinesische Halbfertigprodukte aus russischem Holz entstehen, während Peking mit wenigen Klicks den Handelsfluss dirigiert.
Doch nicht alles läuft reibungslos. Russland hat kürzlich den Export von frisch geschlagenem Kiefernholz verboten – was chinesische Unternehmer zwingt, auf gesägte Bretter umzusteigen. In umgekehrter Richtung verhängte China Anfang 2024 Zölle auf russische Kohle, nachdem staatliche Bergwerke im Inland über sinkende Preise klagten. Es ist ein kontrolliertes Spiel der Kräfte, bei dem China die Regeln bestimmt. Die politische Dimension ist dabei allgegenwärtig. Während westliche Regierungen Sanktionen durchsetzen, liefert China nach wie vor Drohnentechnik an Russland, deckt Moskaus Energieexporte ab und stützt so de facto Putins Kriegswirtschaft. Außenminister Wang Yi nannte die Beziehung beider Länder kürzlich „die stabilste, reifste und strategisch bedeutendste zwischen zwei Großmächten weltweit“. Ein Satz, der in Europa für Nervosität sorgt.


Denn während Brüssel auf diplomatische Distanz geht, hätte ein chinesisches Abrücken von Moskau die Tür zu neuem Dialog geöffnet. Doch das Gegenteil ist eingetreten. In Peking pochen EU-Vertreter wie Ursula von der Leyen auf ein Umdenken. Chinas Haltung zum Krieg sei ein „entscheidender Faktor“ für die Beziehungen. Doch Peking zeigt sich unbeeindruckt – zu wertvoll sind die Ressourcen aus dem Norden, zu strategisch wichtig ist das Signal, dass man sich weder von Washington noch Brüssel vorschreiben lässt, wie Weltpolitik auszusehen hat. Manzhouli steht in all dem als Symbol einer neuen Ordnung: Chinas Werkbank und Russlands Rettungsanker. Ein Ort, an dem sich Geopolitik in Sägespänen, Lastwagenkolonnen und verzollten BMWs ausdrückt – und der zeigt, wie eng Wirtschaft und Macht in einer multipolaren Welt verflochten sind.
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Ein ganz toller Artikel. Ich kannte die Stadt überhaupt nicht.
Vielen Dank und ein sehr unterschätzter Artikel in seiner Aussage – Ein Artikel der uns viel Spass bereitet hat.
Super recherchiert.
Das kommt hier nie in den Medien an
Leider, und genau das sind die Artikel die du hinzaubern musst, weil sie nicht auf empörung und sensationen basieren, sondern eine geschichte erzählen