Péter Magyar, Pride und Protest – Was Ende Juni in Budapest wirklich begann

VonRainer Hofmann

Juli 25, 2025

In Ungarn tut sich etwas – viel sogar. Das wurde uns im Februar deutlich, als wir in Budapest zu mehreren Themen recherchierten: einem konspirativen Treffen und Konzert militanter Blood-and-Honour-Strukturen mit engen Verbindungen nach Russland sowie dem diskret gehaltenen Besuch von Alice Weidel, der öffentlich kaum Beachtung fand – wir hatten aber schöne Bilder. Was wir sahen, war ein Land im inneren Widerspruch – zwischen autoritärem Rückzug und zivilgesellschaftlichem Erwachen, zwischen ideologischer Erstarrung und neuer Unruhe auf den Straßen.

Es hätte nicht stattfinden sollen, doch es wurde zum größten politischen Protest der letzten zehn Jahre: die dreißigste Pride in Budapest. Obwohl Viktor Orbáns Regierung das Versammlungsrecht verschärft und Veranstaltungen mit LGBTQ+-Bezug pauschal unter das sogenannte Kinderschutzgesetz gestellt hatte, zogen im Juni über zweihunderttausend Menschen durch die Straßen der ungarischen Hauptstadt. Offiziell galt der Marsch als „nicht genehmigt“, doch das war kaum von Bedeutung. Denn es ging längst nicht mehr nur um LGBTQ-Rechte – es ging um Meinungsfreiheit, um Teilhabe, um den Zustand einer Nation, die laut Umfragen für 68 Prozent der Bevölkerung auf dem falschen Weg ist. Der Protest kam zu einem denkbar heiklen Zeitpunkt für Orbán. Seit 2010 regiert er mit eiserner Hand, hat die Presse gleichgeschaltet, das Justizwesen seiner Kontrolle unterstellt und die Corona-Pandemie 2020 genutzt, um sich per Dekret nahezu unbegrenzte Macht zu verschaffen. Allein in den ersten zweieinhalb Monaten nach Inkrafttreten des Notstandsgesetzes erließ seine Regierung über 150 Verordnungen – viele davon hatten mit der Pandemie nichts zu tun. Kritische Berichterstattung wurde kriminalisiert, Journalistinnen und Journalisten gerieten ins Visier des Staates. Der letzte große unabhängige Radiosender Klubrádió verlor seine Lizenz, die Onlineplattform Index.hu wurde von regierungsnahen Investoren übernommen. Ungarns Rang in der weltweiten Pressefreiheitsliste sank auf Platz 68.

Parallel dazu wurde eine Kampagne gegen alles geführt, was Orbán und seine Partei als Bedrohung für Familie, Nation und „ungarische Werte“ betrachteten. Im Namen des Kinderschutzes wurde 2021 ein Gesetz verabschiedet, das die „Bewerbung von Homosexualität und Geschlechtsumwandlung“ gegenüber Minderjährigen unter Strafe stellte – eine Formulierung, so vage, dass sie jede Form queerer Sichtbarkeit kriminalisieren konnte. Ein Referendum 2022 sollte dem Gesetz nachträgliche Legitimität verleihen, doch es scheiterte an der massiven Boykottkampagne zivilgesellschaftlicher Gruppen: Die Mehrheit gab ungültige Stimmen ab. Das Gesetz blieb dennoch bestehen – und wurde 2025 noch einmal verschärft, um gezielt gegen die Pride vorzugehen. Was Orbán jedoch nicht einplante: dass genau dieser Versuch, queere Präsenz aus der Öffentlichkeit zu tilgen, Zehntausende mobilisieren würde – nicht nur aus der LGBTQ-Community, sondern aus allen Schichten einer zunehmend unzufriedenen Bevölkerung. Angeführt wurde die diesjährige Pride vom Bürgermeister von Budapest, Gergely Karácsony. Einst Hoffnungsträger einer geeinten Opposition, hatte er 2022 auf seine Kandidatur zugunsten des weit weniger bekannten Péter Márki-Zay verzichtet. Die Entscheidung erwies sich als folgenschwer: Fidesz gewann erneut die Mehrheit, die Oppositionsparteien zerfielen. Lange schien es, als würde niemand mehr Orbán gefährlich werden können. Doch dann kam Péter Magyar.

Dass ausgerechnet dieser Mann zum ernsthaftesten Herausforderer Orbáns wurde, ist eine der größten politischen Ironien der Gegenwart. Magyar war kein Oppositionskämpfer, kein Dissident – sondern ein Funktionär aus dem Innersten des Systems, Ex-Mann der ehemaligen Justizministerin Judit Varga und lange Zeit kaum bekannt. Das änderte sich schlagartig nach einem Skandal, der Ungarn erschütterte: die Begnadigung eines pädophilen Heimleiters durch Präsidentin Katalin Novák, die daraufhin zurücktreten musste. Auch Varga trat ab. Kurz darauf gab Magyar ein Interview, das viral ging: Er sprach von einem System, in dem „die wahren Machthaber sich hinter den Röcken von Frauen verstecken“, und kritisierte offen die Korruption im Machtapparat. Binnen Monaten stieg er von null auf dreißig Prozent Zustimmung bei der Europawahl – ein Phänomen, wie es das in Ungarn noch nie gegeben hatte. Magyars Stärke liegt nicht nur in seiner Unerschrockenheit, sondern in seiner Strategie. Er richtet sich nicht an die urbane Intelligenzija, sondern an genau jene, die bislang zu Orbáns stabilstem Rückhalt gehörten: Menschen in Kleinstädten, auf dem Land, in vergessenen Regionen. Er kennt das System von innen – und nutzt dessen Mechanismen gegen sich selbst. Schnell, laut, überall präsent, besucht er Dörfer, in denen die Opposition seit Jahren nicht mehr gesehen wurde. Er flirtet mit Nationalmythen, spricht über das „Großungarn“ vor dem Vertrag von Trianon, ohne dabei den Fehler zu machen, sich zu sehr in die Vergangenheit zu verbeißen. Und als Orbán im Mai 2025 bei der Eröffnung eines Benediktinerklosters Unterstützung für einen rumänischen Nationalisten signalisierte, der zuvor anti-ungarische Kundgebungen organisiert hatte, war es Magyar, der daraufhin zu Fuß von Budapest an die rumänische Grenze marschierte – um Solidarität mit den ungarischen Minderheiten zu zeigen. Es war eine Geste, die im rechten Lager einschlug.

Trotzdem bleibt Orbáns System stabil – vorerst. Es funktioniert nicht durch Gewalt, sondern durch Kontrolle. Anders als Putin setzt Orbán nicht auf Massenverhaftungen oder gezielte Einschüchterung. Er braucht sie nicht. Die Justiz gehorcht, das Parlament nickt ab, Gesetze wie das „Transparenzgesetz“ von Mai 2025 ermöglichen die wirtschaftliche und rechtliche Zerschlagung missliebiger Organisationen – etwa durch Strafzahlungen in 25-facher Höhe ausländischer Fördermittel. Damit lässt sich jede NGO oder Stiftung in die Knie zwingen, ohne einen einzigen Polizisten zu schicken. Und doch zeigen die jüngsten Entwicklungen: Die Angst beginnt zu bröckeln. Nach der Pride wurde zwar eine erste Anzeige gegen eine Teilnehmerin – die Aktivistin Lili Pankotai – eingeleitet, doch die Ermittlungen wurden schnell eingestellt. Ein ungarischer „Bolotnaja-Prozess“, wie einst in Russland, blieb aus. Das System will keine Märtyrer. Es will Kontrolle ohne Blut. Orbáns Macht basiert auf dem Mythos vom Freiheitskämpfer – ausgerechnet jener Rolle, die er sich 1989 mit seiner legendären Rede gegen die kommunistische Herrschaft selbst erschuf. Würde er Gewalt anwenden, wäre dieser Mythos mit einem Schlag zerstört.

Ungarns autoritäre Transformation ist weit fortgeschritten, doch sie ist nicht abgeschlossen. Die Erfolge von Budapest Pride und Péter Magyar zeigen, dass es noch Widerstand gibt – und Sehnsucht nach einem anderen Ungarn. 79 Prozent der Bevölkerung würden laut Umfragen in der EU bleiben wollen. 68 Prozent sind mit dem Kurs der Regierung unzufrieden. Im April 2026 wird gewählt. Dann wird sich zeigen, ob Orbáns System überlebt – oder ob das, was Ende Juni in Budapest begann, tatsächlich eine Revolution war.

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Helga M.
Helga M.
2 Monate zuvor

Das klingt nach Hoffnungsschimmer.😊🍀

Zorin Diaconescu
2 Monate zuvor

Klingt ermutigend. Leider hat Ungarn noch einen langen Weg vor sich. Genau wie mein Land, Rumänien.

Ela Gatto
Ela Gatto
2 Monate zuvor

Hoffentlich werden die Restriktionen für das nächste Jahr nicht noch schlimmer.
Und hoffentlich finden sich mutige Menschen, wie Peter Magyr, nicht im Gefängnis wieder.

Erdogan macht es vor.

Und Putin ist Orbans Buddy ….

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