An einem milden Herbstnachmittag hängt der Geruch von Tränengas noch immer in der Luft. Zwischen den viktorianischen Häusern von Lakeview, wo sonst Kinder mit Rollern vorbeiflitzen und Gärtner Laub zusammenrechen, hat sich etwas verändert. Die Straße wirkt leerer, das Vertrauen brüchiger. Hier, mitten im Norden Chicagos, ist das, was viele für unmöglich hielten, Wirklichkeit geworden: Ein Einsatz von Bundesagenten – ICE oder etwas, das wie ICE aussieht – mitten in einem Wohnviertel. Ohne Warnung. Ohne Vorankündigung. Es begann gegen Mittag an der Lakewood Avenue, wenige Blocks vom Wrigley Field entfernt. Anwohner hörten das Quietschen von Reifen, sahen zwei dunkle SUVs ohne Kennzeichnung, sahen Männer in taktischen Westen – und dann das Fauchen von Gasgranaten. Ein grauer Nebel zog über Vorgärten, über einen Sandkasten, über Hunde und Spaziergänger. „Ich dachte erst, das sei ein Feuer“, erzählt eine Nachbarin. „Dann brannte mir der Hals.“
Unsere Recherchen wie auch die von ABC7 bestätigten später, dass Tränengaskanister eingesetzt wurden, der seitens der ICE einfach über die Straße gerollt wurde. Es war kein Protestmarsch, keine Bedrohungslage, kein Angriff. Nur Nachbarn, die zusahen, wie Bauarbeiter von einer Baustelle geführt wurden – offenbar wegen eines Einwanderungsverfahrens. Was danach geschah, war ein Schock für eine Stadt, die viel gesehen hat, aber das noch nicht. „Tränengas wurde ohne Vorwarnung von ICE-ähnlichen Agenten eingesetzt, während Nachbarn nichts provozierten“, sagt Bennett Lawson, der Stadtrat des 44. Wards. Er spricht ruhig, fast kontrolliert, aber seine Stimme verrät Wut. „Es gab keine Ankündigung, keine Räumungsaufforderung. Nur Gas. In einer Wohnstraße.“
Die Agenten verschwanden so schnell, wie sie gekommen waren. Zurück blieben leere Hüllen der Gasgranaten, tränende Augen, hustende Kinder und ein wachsendes Gefühl der Entfremdung. Die Schule zwei Straßen weiter, eine kleine Elementary, ging in einen Soft Lockdown. Eltern rannten zu den Eingängen, um ihre Kinder abzuholen. „Es war surreal“, sagt ein Lehrer. „Als wären wir plötzlich in einem Land, das uns fremd ist.“ Das Department of Homeland Security erklärte später auf Nachfrage, der Einsatz sei „Teil einer koordinierten Maßnahme zur Aufklärung und Sicherung einer Person von Interesse“ gewesen. Doch weder ICE noch das Pentagon oder die Chicagoer Polizeibehörde wollten bestätigen, welche Einheit tatsächlich vor Ort war. Auf den Westen der Männer standen keine Namensschilder, keine Abzeichen. Nur das Emblem einer Behörde, die in den letzten Monaten immer häufiger in amerikanischen Wohnvierteln auftaucht: DHS Tactical Operations.
Die Nachbarn wissen nicht, wer festgenommen wurde. Ein Bauarbeiter, sagen einige. Ein Landschaftsgärtner, sagen andere. Manche behaupten, er habe Papiere, andere, er sei „untergetaucht“. Aber das ist nebensächlich geworden. Entscheidend ist das Gefühl, dass hier ein Damm gebrochen ist – die Grenze zwischen Staat und Bürger, zwischen Kontrolle und Einschüchterung.
Seit Wochen häufen sich Berichte über aggressive ICE-Razzien in der Stadt – über unmarkierte Fahrzeuge, über nächtliche Festnahmen, über den Einsatz von Drohnen über Wohngebieten. Die Operation trägt den Codenamen „Midway Blitz“, offiziell zur „Bekämpfung illegaler Migration“. Inoffiziell wirkt sie wie ein Versuch, ein neues Normal zu schaffen: Bundesagenten mit militärischer Ausrüstung, operierend inmitten amerikanischer Städte. Lakeview ist ein Viertel, das man für unantastbar hielt – sicher, wohlhabend, bürgerlich. Dass hier Tränengas gezündet wird, sendet eine Botschaft: Niemand ist mehr außerhalb des Radius.
Als die Sonne untergeht, hängen die Spuren des Gases noch über der Straße. Der Asphalt ist feucht, ein paar Granatenreste liegen in den Rinnen. Kinder schauen aus den Fenstern, ihre Eltern schließen die Vorhänge. In den sozialen Medien hat jemand das Video mit einem Satz kommentiert: „Wenn der Staat Angst hat vor den eigenen Nachbarn, hat er längst vergessen, wen er schützen soll.“ Und vielleicht ist genau das die Wahrheit von Lakeview an diesem Tag – dass ein demokratisches Land sich daran gewöhnen soll, Tränengas zu einzuatmen, ohne Fragen zu stellen.
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