Es gibt Geschichten, die sich dem Verstehen entziehen – und doch geschrieben werden müssen. Die Geschichte von Vance Boelter ist eine solche. Ein Mann, der einst im ländlichen Minnesota für seine Freundlichkeit ausgezeichnet wurde und Jahrzehnte später durch das Feuer eines Sturmgewehrs zwei Menschen tötete und zwei weitere schwer verletzte. Was in diesen Jahren geschah, lässt sich nicht auf eine Formel bringen. Aber es zeigt, wie Glaube kippen kann, wie Hoffnung sich verhärtet – und wie aus religiöser Inbrunst tödlicher Wahn wird.



Boelter wuchs in der Kleinstadt Sleepy Eye auf, Sohn eines Baseballtrainers, selbst sportlich, beliebt, höflich. Im Jahr 1985 beginnt er sein Studium in St. Cloud, probiert sich im College-Baseball, scheint den klassischen amerikanischen Weg zu gehen. Doch irgendetwas gerät aus der Spur. Er trifft auf eine evangelikale Gruppe außerhalb des Campus, verkauft sein Hab und Gut – inklusive Baseballschläger –, zieht sich zurück und erklärt seine Kommilitonen für verloren. Der junge Mann, der eben noch ein normaler Student war, predigt plötzlich in einem Zelt im Park. „Er war wie hypnotisiert“, erinnert sich ein Mitstudent. Was folgt, ist eine Lebensreise, die an eine religiöse Odyssee erinnert – durch Institute, Kirchen, Business-Ideen, Kontinente. In Dallas studiert Boelter am bibeltreuen „Christ for the Nations Institute“, später kehrt er zurück nach Minnesota, heiratet, zieht fünf Kinder groß – mit Namen wie Faith, Hope und Joy. Die Familie zieht mehrfach um, Boelter arbeitet in Wurstfabriken, bei Gerber, Del Monte, gründet Sicherheitsfirmen, kauft alte Kirchen, verkauft sie weiter, plant ein Hilfsprojekt im Kongo. Er predigt dort, tanzt, fällt auf die Knie, weint. Aber nichts hält, nichts trägt dauerhaft. Die Mission, die Erfüllung, die Größe – sie bleiben aus.


In der Nacht des 14. Juni 2025 überschreitet Boelter die letzte Grenze. In einem SUV, umgebaut wie ein Polizeiauto, fährt er mit mehreren Waffen zu den Häusern demokratischer Abgeordneter in Minnesota. Zwei von ihnen trifft er nicht an. Bei Senator John Hoffman klingelt er als angeblicher Polizist, schießt auf ihn und seine Frau. Wenig später tötet er Melissa Hortman und ihren Ehemann Mark – mit einer Polizeiweste und einem Hund als letztem stillen Opfer. Was Boelter dabei antreibt, bleibt in Nebel gehüllt. Kein Manifest, kein klares Motiv – nur kryptische Aussagen . Er spricht von einem „zwei Jahre langen Undercover-Einsatz“, von göttlicher Führung, von einer Verschwörung in Minnesota. In seinen Notizen finden sich Namen, aber keine Stringenz. In einem Brief an FBI-Direktor Kash Patel fabuliert er von politischen Machenschaften, die er angeblich aufdecken wollte. In Wahrheit spricht aus all dem ein Mann im Zustand religiöser und psychischer Zersetzung, getrieben vom Glauben, „zu tun, was andere wissen, aber sich nicht trauen“. Es ist ein Drama, das sich nicht mit Schlagworten erklären lässt. Weder der Glaube allein noch die Politik, weder Armut noch Wahn reichen aus. Und doch spiegeln sich in Boelters Geschichte gleich mehrere Krisen Amerikas: die Verwundbarkeit ländlicher Existenzen, das Scheitern spiritueller Heilsversprechen, die Eskalation rechter Verschwörungsideologien – und der Missbrauch des Christentums als Rechtfertigung für Gewalt. In seiner letzten Nachricht an die Familie schrieb Boelter: „Papa ist letzte Nacht in den Krieg gezogen.“ Wenige Stunden später fand man ihn in einem Feld bei Sonnenuntergang – am Vatertag. Versteckt, verloren, gebrochen. Was bleibt, ist nicht nur Trauer. Es ist die verstörende Erkenntnis, dass aus dem Glauben an das Gute manchmal das genaue Gegenteil erwachsen kann – wenn keiner mehr widerspricht.

Boelters Geschichte steht nicht isoliert. Sie wirft ein Schlaglicht auf das Zusammenspiel aus religiöser Radikalisierung, ideologischer Aufladung und staatlichem Versagen. Offenbar hatte er über Monate hinweg ein Arsenal zusammengetragen – legal erworbene Sturmgewehre, kugelsichere Westen, Funkgeräte, Überwachungstechnik –, das weniger auf spontane Verzweiflung als auf einen planvoll durchdrungenen Wahn hindeutet. In den digitalen Spuren seines Lebens finden sich Hinweise auf Kontakte zu Verschwörungsgruppen wie QAnon, zu christlich-nationalistischen Bewegungen und zu den sogenannten „Sovereign Citizens“, die sich selbst außerhalb jeder staatlichen Ordnung verorten. In diesen Kreisen ist Gewalt kein Tabubruch, sondern ein göttlich legitimierter Akt – gerichtet gegen einen imaginierten „tiefen Staat“, gegen politische Gegner, gegen eine Welt, die als verderbt gilt. Freunde und Angehörige berichten von einem Mann, der sich zunehmend zurückzog, der Gott in seinen Träumen hörte, der Bibelverse als Befehle verstand – und sich selbst als Werkzeug göttlicher Gerechtigkeit. Diese Entwicklung fiel niemandem auf. Kein Frühwarnsystem schlug an, keine Behörde griff ein, kein seelsorgerisches oder psychologisches Netz schien ihn je erfasst zu haben. Dass Boelters Tat zudem auf eine politische Rhetorik trifft, die seit 2024 demokratische Politiker gezielt dämonisiert, den Staat als Kinderschänder diffamiert und sich religiöser Bilder bedient, ist kein Zufall. Es ist der Resonanzraum, in dem Worte zu Waffen werden. Und auch in Deutschland ist diese Dynamik längst angekommen: Evangelikale Gruppen, konservative Bibelkreise und neureligiöse Bewegungen präsentieren sich zunehmend als Auffangbecken für Orientierungssuchende in unsicheren Zeiten. Sie wachsen – im Verborgenen, im Digitalen, im Alltäglichen. Und sie versprechen Erlösung, wo in Wahrheit nur Radikalisierung beginnt. Wenn der Staat auf solche Entwicklungen nicht entschiedener reagiert, bleibt er – wie im Fall Boelter – blind für den Moment, in dem Glaube zur Gefahr wird.
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Radikalen religiöse Gruppierungen sind immer brandgefährlich.
Es gibt nur noch ein „Wir“ und die Anderen.
Alles außerhalb wird verdammt.
Innerhalb ist keine Kritik erlaubt.
Er ist nicht der Erste und nicht der Letzte der sich von Gott, Allah oder wem auch immer berufen fühlt „die Anderen“ auszulöschen.
Man kann nur hoffen, dass diese Saat des Hasses sich nicht in seinen Kindern manifestiert hat.
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Sonst stehen die nächsten Attentäter schon bereit.