In den Vereinigten Staaten ist die Bewegung, die einst Millionen Menschen auf die Straßen brachte, fast verschwunden – nicht, weil sie versagte, sondern weil sie gezielt zum Schweigen gebracht wurde. Fünf Jahre nach dem Sommer der größten Bürgerrechtsproteste seit den 1960er Jahren scheint Black Lives Matter ausgelöscht, verdrängt, vergessen. Doch wer genauer hinsieht, erkennt: Sie hat sich nicht aufgelöst, sie hat sich verlagert. Aus den Schlagzeilen in die Nebenräume der Gesellschaft, aus den Straßen in die Häuser, aus der Sichtbarkeit in den Selbstschutz.

Black Lives Matter war nie eine Organisation im klassischen Sinn. Kein Hauptquartier, kein Logo, keine Hierarchie – sondern ein Netzwerk aus Menschen, Städten, Emotionen. Diese Struktur war ihre Stärke, aber auch ihr Schwachpunkt. Als der Staat reagierte, reagierte er nicht auf eine Partei, sondern auf eine Idee. Das FBI, das Department of Homeland Security und Dutzende lokale Polizeibehörden setzten zwischen 2020 und 2023 die vielleicht umfassendste Überwachungsstrategie gegen eine Bürgerbewegung seit den Tagen der Black Panther Party ein. Der Begriff „Black Identity Extremists“, später ersetzt durch „Racially Motivated Domestic Terrorism“, wurde zur bürokratischen Tarnung für gezielte Einschüchterung. Aktivistinnen verloren ihre Jobs, Organisationen ihre Konten, ganze Gruppen verschwanden aus dem öffentlichen Raum – nicht durch Verbot, sondern durch Erschöpfung.
Die politische Kultur tat ihr Übriges. Nach dem Tod von George Floyd und der moralischen Explosion, die daraus folgte, wurde die Bewegung zu einer Projektionsfläche. Für Millionen war sie Hoffnung. Für andere war sie eine Bedrohung, ein Symbol für Kontrollverlust. Rechte Medien dämonisierten sie als Chaostruppe, konservative Politiker als Sicherheitsrisiko. Das Ergebnis war eine mediale Doppelbelichtung: BLM wurde zugleich gefeiert und gefürchtet – und in diesem Spannungsfeld aufgerieben. Heute existiert Black Lives Matter weiter, aber in anderer Form. In Oakland und Houston arbeiten Gruppen wie Community Ready Corps oder Huey P. Newton Gun Club an lokaler Selbstverteidigung, in Jackson (Mississippi) organisieren ehemalige Aktivisten Mietstreiks, in Detroit und Chicago übernehmen kleine Netzwerke rechtliche Beratung für Menschen, die von Polizeigewalt betroffen sind. Sie haben die Fahnen eingerollt, aber nicht kapituliert. Die neue Bewegung ist eine, die nicht gesehen werden will. Keine Transparente, keine Massenmärsche – sondern stille Strukturen, die funktionieren, weil sie unsichtbar sind.

In dieser Unsichtbarkeit steckt Überlebenstaktik. Nach Jahren der Überwachung durch staatliche und private Datenfirmen – von Gesichtserkennung bis zu Spendenplattform-Scans – ist Anonymität zur Schutzschicht geworden. Viele, die 2020 mit vollem Namen protestierten, operieren heute unter Pseudonymen, oft ohne Social-Media-Spuren. Das ist kein Rückzug aus der Politik, sondern eine Anpassung an ein Land, das Aktivismus kriminalisiert, während es Rassismus wieder normalisiert. Die alte Rhetorik der Panthers – Selbstverteidigung, Selbstversorgung, Selbstachtung – kehrt damit leise zurück. In Atlanta bauen Nachbarschaften Notfallnetzwerke auf, die Polizeiinterventionen dokumentieren und alternative Rechtshilfe organisieren. In Los Angeles und Minneapolis entstehen wieder community bail funds, um Festgenommene freizukaufen. Es sind kleine Gesten, unscheinbar, aber mit der gleichen Wurzel wie einst die Frühstücksprogramme der Panthers: Überleben als politischer Akt. Und doch bleibt der Verlust spürbar. Die landesweite Stimme, die die Gewalt offen benennt und ihr moralisches Gegengewicht bildet, fehlt. Die großen Bürgerrechtsorganisationen – NAACP, Urban League, Rainbow PUSH – wirken müde, institutionalisiert, gefangen in Spendenkreisläufen. Die Medien, einst fixiert auf das Bild brennender Polizeiwagen, haben das Thema fallen gelassen, als die Flammen erloschen. Und so entsteht eine gefährliche Leerstelle: Eine Regierung, die systematisch Bürgerrechte abbaut, steht kaum noch einer Bewegung gegenüber, die diesen Namen verdient.
Was bleibt, sind Menschen, die weitermachen – ohne Applaus, ohne Öffentlichkeit. In New Orleans verteilt eine kleine Gruppe wöchentlich Lebensmittel an Familien von Inhaftierten. In Minneapolis gibt es kostenlose Nachhilfeprogramme für Kinder, deren Eltern durch Polizeigewalt getötet wurden. In Brooklyn sammeln Aktivisten Geld, um Mieten zu bezahlen, wenn Wohnungen nach Razzien zerstört wurden. All das ist Black Lives Matter – nur unter anderem Namen, mit anderem Rhythmus, jenseits des Scheinwerferlichts.

Der Staat hat gelernt, wie man Protest entpolitisiert: nicht durch Gewalt, sondern durch Müdigkeit. Er lässt ihn verebben, bis nur noch Alltag bleibt. Doch genau in diesem Alltag lebt der Widerstand weiter – nicht als Schlagzeile, sondern als Routine. Die Bewegung hat sich verflüssigt, ist in den Boden gesickert wie Wasser, das keine Richtung braucht, um Leben zu spenden. Wer heute nach Black Lives Matter fragt, sollte nicht nach einem Hashtag suchen. Sondern nach den Menschen, die immer noch tun, was sie schon immer getan haben: sich gegenseitig schützen, wo der Staat versagt. In den Küchen, in den Kirchen, in den leeren Häusern. Sie sind das Gedächtnis einer Idee, die sich nicht mehr zeigen muss, um zu existieren. Und vielleicht ist genau das ihre radikalste Form.
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